Kriegspredigten im Ersten Weltkrieg
Einführung
Mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon und dem Übergang von den Söldnerheeren zu den Volksheeren bekam der Krieg eine neue, viel stärker emotionale Qualität und wurde von vielen als das unmittelbare Walten des Herrn der Geschichte und gleichsam als Läuterung und religiöse Erweckung erlebt. „Mit Mann und Ross und Wagen so hat sie Gott geschlagen“, heißt es über das französische Heer in einem sehr populären zeitgenössischen Lied. Eine Mehrzahl der evangelischen Pfarrer stand im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts der Richtung nahe, die als „Nationalprotestantismus“ bezeichnet worden ist. In der Nachfolge von Herder und besonders Fichte und vor allem in der Ausprägung des Göttinger Theologieprofessors Albrecht Ritschl (1822-1889) wurde Gott als Lenker der Geschichte verstanden, der die Menschheit zu immer höherer geistiger und sittlicher Vollkommenheit führe. Am weitesten fortgeschritten auf diesem Wege sei das deutsche Volk. Das zeige sich zum einen an der Person Martin Luthers, der seit 1871 zunehmend nicht so sehr als Reformator und Vorkämpfer religiöser Toleranz verstanden wurde, sondern mehr als Vorbereiter der deutschen Einheit. Weitere große Persönlichkeiten wie Goethe oder Kant, vor allem aber Bismarck und auch Kaiser Wilhelm II. seien der Beweis, dass Gott dem deutschen Volk eine besondere Aufgabe zugedacht habe.
So wurde von vielen - vorzugsweise evangelischen - Pfarrern schon bald nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs dieser Krieg als eine „Veranstaltung Gottes“ angesehen, als notwendige Stufe zur Höherentwicklung und deshalb selbstverständlich – auch im Sinne Martin Luthers - als „gerechter Krieg“. Im Krieg wolle Gott in seiner „Erziehungsweisheit“ die Deutschen „sichten“. Der propagandistisch sehr stark hervorgehobene, angeblich alle, auch die konfessionellen Unterschiede überbrückende „Geist von 1914“ sei ein weiterer Höhepunkt in dieser von Luther eingeleiteten Entwicklung. Auch durch die Aufforderung Kaiser Wilhelms II. an seine Landsleute bekam der Krieg von Anfang an eine religiöse Dimension: „Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer.“
Nach dem Gesetz über den Kriegsdienst von 1868 waren in Württemberg alle Pfarrerkandidaten, welche die erste Dienstprüfung abgelegt hatten, vom Wehrdienst befreit. Viele Pfarrer zogen aber den Dienst als Einjährig-Freiwillige vor, um Reserveoffizier werden zu können. Diese Dienstzeit wurde später bei der Beförderung angerechnet.
Am 3. August 1914 gab als erste deutsche Landeskirche die württembergische Landeskirche ihren Pfarrern und Predigtamtskandidaten den Dienst mit der Waffe frei. Bis 1918 marschierten 275 württembergische Pfarrer ins Feld, vorzugsweise als Reserveoffiziere zur kämpfenden Truppe, aber auch 51 als Feldprediger. Einer von ihnen war der spätere Ulmer Prälat Walther Buder. Als Professor für Religion und Hebräisch an einem Stuttgarter Gymnasium meldete er sich freiwillig als Feldgeistlicher, wurde später zum Armeeoberpfarrer der 10. Armee befördert und mehrfach ausgezeichnet. In seiner Predigt zu Karfreitag 1915 verkündete er den Soldaten: „Auch wir stehen im Kämpfen – an dem Herrn Christus sehen wir, was ein rechter Kämpfer war. Auch uns droht Leiden – bei dem Herrn können wir lernen, wie ein rechter Held Gottes das Leiden trägt. Auch vor unserer Tür wartet vielleicht bald der Tod – an Jesu Sterben erkennen wir, was es heißt, mit Gott zu Gott heimkehren.“
Zahlreiche umgehend in den Druck gegebene Kriegspredigten sind aus der Zeit des Ersten Weltkriegs überliefert. Heute mag es schwer verständlich erscheinen, mit welcher Unbekümmertheit damals von katholischen, mehr noch von evangelischen Pfarrern kriegsverherrlichende Töne angeschlagen wurden und der ‚Heldentod’ gerühmt wurde, ja, mit welcher an Blasphemie grenzender Ungeniertheit Gott für die deutsche Sache vereinnahmt wurde. „In unseres Herrgotts Schützengraben - Vom deutschen Gott“ war sogar der Titel einer bereits 1914 erschienenen Predigtsammlung. In den meisten Fällen wird dabei die Bibel sehr willkürlich ausgelegt. So z.B., wenn das deutsche Volk mit dem alttestamentarischen Joseph verglichen wird, einem auffallend schönen Knaben, dem Liebling seines Vaters, den seine Brüder aus Neid verprügeln und verkaufen. Besonders beliebt war auch der Vergleich des Kriegsausbruchs mit dem Pfingstereignis, der ‚Ausgießung des Heiligen Geistes’. Als weiteres Beispiel für die religiöse Überhöhung des Soldatenberufs seien hier die Worte zitiert, mit denen der Tübinger Garnisonspfarrer Dr. O.Meyer seine Soldaten ins Feld schickte: „Gott und das Vaterland. Wir spüren es jetzt unmittelbar: Beide gehören zusammen....... Eure Arbeit ist ‚ein Werk des Herrn’; Euer Kriegsdienst ist ein Gottesdienst. Das haltet Euch vor, wenn die Arbeit Schweiß kostet.... Ein schlechter, gottloser Mensch ist nie ein guter Soldat, und ein rechter Soldat ist immer auch ein guter Christ.“
Der Krieg bedeutete eine deutliche Mehrbelastung der zu Hause gebliebenen Pastoren. Zusätzliche Gottesdienste und Gebetsstunden mussten gehalten werden, Spendenaktionen mussten durchgeführt, Brief- und Geschenkaktionen für die Soldaten im Feld organisiert werden. Den Pfarrern fiel auch die Aufgabe zu, die Angehörigen gefallener Soldaten zu informieren. Es wurde erwartet, dass sie eine kriegsbejahende Grundhaltung förderten und aufkommende Kritik kanalisierten. So fiel ihnen unausgesprochen die Rolle zu, als „Transmissionsriemen staatlicher und militärischer Propaganda sowie organisatorischer Vorgaben“ zu fungieren (Hörrmann 1995). In einem ‚vertraulichen Ausschreiben’ des Stuttgarter Konsistoriums war zu lesen: „Für den Dienst am Wort Gottes ist es die wichtigste Aufgabe, auch den Krieg und seinen Verlauf in das Licht des göttlichen Wortes zu stellen; und von diesem Standort aus die Regungen von Mißmut und Kleinmut zu bekämpfen“. Dazu wurde den Pfarrern ein ganzes Arsenal an Propagandafloskeln an die Hand gegeben.
Aber anzunehmen, die christliche Kirche sei hier lediglich der willfährige Handlanger der politischen und militärischen Führer gewesen, würde zu kurz greifen. Als Kinder ihrer Zeit erlagen auch die Pfarrer der Kriegspropaganda, vor allem dem viel beschworenen „Geist von 1914“, d.h. dem Rausch des Gemeinschaftsgefühls und der Opferbereitschaft für höhere, idealistische Ziele. Gleichzeitig waren sie aber selber auch ein Teil dieser Propaganda. Einer von ihnen erinnert sich: „Es ist uns gewesen, als hätten wir von den Stirnen und von den Augen der vielen, die zu den Gottesdiensten kamen, nur abzulesen gehabt, was wir zu sagen hatten.“
Ähnlich muss es auch dem Ulmer Münsterpfarrer Reinhold Dieterich ergangen sein, der als linksliberal galt und den Arbeitervereinen nahe stand. In seinen Kriegspredigten aus dem Jahre 1914 erkennt man aber eine deutlich nationalprotestantische und zudem kriegsverherrlichende Tendenz. Der Text seiner ersten „Kriegsbetstunde“ vom 3. August 1914 erschien schon zwei Tage später in Ulm im Druck. Im Vorwort zum Sammelbändchen seiner Predigten aus den ersten Kriegsmonaten, bezeichnenderweise datiert „Am Tag der Kapitulation von Metz“, bekannte er, dass er sich von dem Krieg eine „Christianisierung des Deutschtums“ und eine „Germanisierung des Christentums“ erwarte.
Es soll nicht übergangen werden, dass es auch gemäßigtere, weniger kriegsverherrlichende Predigten gab. Ein Beispiel dafür ist der Ulmer Prälat Heinrich Planck, der in seiner Predigtreihe über das Vaterunser zur gleichen Zeit und am gleichen Ort wie sein 15 Jahre jüngerer Kollege Dieterich weitaus nachdenklichere Töne anschlug. Vor allem muss in diesem Zusammenhang der Name des Stuttgarter Pfarrers Otto Umfrid genannt werden, seit 1894 Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) Bertha von Suttners, der in Deutschland als „Friedenshetzer“(!) diffamiert für den Friedensnobelpreis von 1914 vorgesehen war, welcher dann allerdings nicht mehr vergeben wurde.
Die Niederlage im Krieg brachte die Vertreter des nationalprotestantischen Geschichtsbildes in ziemliche Erklärungsnot. War Gott vielleicht doch nicht der große Lenker der Geschichte? Oder waren die Kriegsgegner vielleicht eher die Favoriten in seinen Plänen gewesen? Aber statt ihre Vorstellungen zu revidieren, waren sie bestrebt, die Niederlage eher zu ihrer Bestätigung umzuinterpretieren. „Gott wollte unsere Wehrmacht im Felde zum Sieg führen, aber wir in der Heimat erwiesen uns seiner großen Pläne nicht würdig“, predigte nach dem Krieg der Hof- und Domprediger Bruno Doehring im Berliner Dom. Die Theologen in ihrem Erklärungsdilemma wurden damit zu wesentlichen Beförderern der verhängnisvollen „Dolchstoßlegende“.
Burckhard Pichon (Oberstudienrat i.R.)