Religiöses Leben im (Spät-)Mittelalter
Das religiöse Leben in Ulm bis zur Reformation war – wie in vielen anderen spätmittelalterlichen Städten – einerseits durch die Vielfalt der geistlichen Institutionen (nach Felix Fabris ‚Sionpilgrin‘ insgesamt 35 Kirchen und Kapellen in der Stadt), andererseits durch eine große Anzahl privater und kollektiver Frömmigkeitspraktiken geprägt. Bürgergemeinde und Kirchengemeinde bildeten nicht nur eine personale, sondern auch eine politisch-religiöse Einheit. Die irdische Wohlfahrt des Gemeinwesens sah man in unmittelbarer Abhängigkeit vom göttlichen Segen. Dies führte dazu, dass ein großer Anteil des wirtschaftlichen Reichtums der Stadt und der Bürger in religiöse Stiftungen, vor allem in das Münster, floss. Die Politiker der Reichsstadt betonten darüber hinaus, dass sie sich auch für das Seelenheil ihrer Bürger verantwortlich fühlten. So verfolgten sie auch mit der Verlegung der Pfarrkirche „Unserer Lieben Frau“ in die Stadtmitte die Loslösung von allen Rechten des Klosters Reichenau, dem die Pfarrkirche bis dahin noch inkorporiert war. Mit dem Kauf der letzten reichenauischen Besitzungen und Rechte 1446 war dies dem Rat gelungen; fortan wählte man seinen Pfarrer im Münster selbst aus, und die Obrigkeit versuchte, den Einfluss auf die Geistlichen und Ordensleute in der Stadt weiter auszubauen und eine gute Seelsorge zu gewährleisten. Sehr aktiv suchten gerade die seit 1229 bzw. 1281 in der Stadt ansässigen Franziskaner und Dominikaner durch Predigt und Beichte den Kontakt zu den Einwohnern der Stadt. So erklärt sich auch die Tatsache, dass die beiden Konvente ebenfalls mit reichen Stiftungen bedacht wurden.
Die Anzahl frommer Stiftungen des Ulmer Bürgertums vermehrte sich bis in die Anfangsjahre der Reformation enorm; sie galten nicht nur der eigenen Jenseitsvorsorge, sondern sie sollten auch das Sozialprestige des Stifters im Diesseits fördern. Einige charakteristische Beispiele solcher Stiftungen waren die außerordentlich hohe Anzahl von Altären und deren Ausstattung mit Messgeräten, Textilien und sakraler Kunst sowie Epitaphien, Totenschilde, Grabsteine, Wandmalereien oder Skulpturen für die Gotteshäuser. Die Stifter legten fest, für wessen Seelenheil der Altarist, der für einen bestimmten Altar zuständige Geistliche, die Messe zu lesen hatte, und sie vertrauten ihre Altäre dem Schutz der von ihnen bevorzugten Heiligen an.
Neben den Gottesdiensten und den Stiftungen äußerte sich religiöses Leben aber auch in Formen privater Andacht oder in kollektiven Frömmigkeitspraktiken in der Öffentlichkeit. Manche Patrizier leisteten sich in ihren Wohnhäusern private Kapellen, aber auch weniger Betuchte konnten sich Gebets- und Erbauungsliteratur, Andachtsbildchen, Rosenkränze oder andere fromme Gegenstände mit religiöser Funktion leisten. Großer Anteilnahme erfreuten sich in der Bevölkerung die geistlichen Bruderschaften, die Feste im Kirchenjahr, Wallfahrten, Prozessionen, geistliche Spiele und das Ablasswesen. Gerade die Ablassbriefe, deren Kauf nach Lehre der Kirche das Erlassen von auf Erden oder im Fegefeuer abzubüßende Sündenstrafen bewirken sollte, waren in Ulm an vielerlei Orten und zu zahlreichen Anlässen von den Gläubigen zu erhalten.
Dr. Gudrun Litz (Stadtarchiv Ulm)