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Aufbruch entlang der Donau

Die Ulmer Ordinari-Schiffe fuhren spätestens seit 1712 jede Woche vom Frühjahr bis in den Spätherbst nach Wien, vollbeladen mit Frachtgütern und Passagieren

© Stadtarchiv Ulm

Die Ulmer Ordinari-Schiffe fuhren spätestens seit 1712 jede Woche vom Frühjahr bis in den Spätherbst nach Wien, vollbeladen mit Frachtgütern und Passagieren

Ende des 17. Jahrhunderts konnte die osmanische Herrschaft im Königreich Ungarn durch die kaiserlichen Heere zurückgedrängt werden. Die Habsburger, die gleichzeitig Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und Könige von Ungarn waren, standen nun vor der Aufgabe, das größtenteils verwüstete Land zu sichern und wieder aufzubauen. Dazu benötigte man vor allem Arbeitskräfte, die sich zusammen mit den Einheimischen dieser Aufgabe widmeten. Getreu den Prinzipien des Merkantilismus versuchte man sowohl die Bevölkerung schnell zu vermehren, als auch eine Steigerung der Produktivität und Qualität in Handel, Gewerbe und Landwirtschaft zu erreichen. Von der Anwerbung von Kolonisten aus dem Reich, die über das nötige Fachwissen verfügten, erhoffte man sich die schnellsten Erfolge. Die meisten der insgesamt geschätzten 100.000 bis 400.000 Kolonisten – die vor allem aus Oberschwaben, Württemberg, Baden, der Schweiz, dem Elsass, Lothringen und den Kurfürstentümern Pfalz und Trier stammten und erst später von der Forschung als Donauschwaben bezeichnet wurden – reisten ab Ulm auf dem Wasserweg in die neue Heimat. Die Reichsstadt spielte als erster Einschiffungsort an der Donau dabei eine wichtige Rolle und wurde im 18. Jahrhundert zur Drehscheibe der Kolonistenströme in den Südosten Europas.
Zunächst waren es vereinzelte Auswanderer, die sich auf den Weg machten, ab 1712 gab es auch organisierte Züge, die entweder von privaten Grundherren in Ungarn oder den kaiserlichen Behörden organisiert wurden. 1712 lud der ungarische Graf Alexander Károlyi mit Genehmigung Kaiser Karls VI. Kolonisten aus dem Reich auf seine neu erworbenen Güter in Sathmar ein. In ganz Oberschwaben, das unter den vorangegangenen Kriegsereignissen des Spanischen Erbfolgekrieges (1740-1748) besonders gelitten hatte, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Tausende kamen in diesem Frühjahr nach Ulm, um sich Richtung Ungarn einzuschiffen, wie viele Ulmer Chroniken berichten. Dieser Ansiedlungsversuch scheiterte jedoch weitgehend, da man trotz aller Bemühungen in Sathmar mit der Menge der Auswanderer überfordert war. Im Herbst drängten Hunderte von gestrandeten und kranken Auswanderern bettelnd zurück in die Heimat. Um ein Einschleppen von Seuchen in den Schwäbischen Reichskreis zu vermeiden, errichtete Ulm auf Kreiskosten am Rande seines Territoriums binnen weniger Tage ein großes Lazarett unterhalb Leipheims für die auf mehreren Schiffen donauaufwärts kommenden Kranken. Etwa 150 Kranke wurden über zwei Monate dort versorgt, mehr als die Hälfte davon waren Kinder und Jugendliche.
Motive der Auswanderer waren Kriege, Witterungskatastrophen, Hungersnöte, Seuchen, hohe Abgaben und Steuerlasten, eine rigide Verwaltungspolitik oder drückende Erbrechte. Geringe soziale Aufstiegsmöglichkeiten konnten sich bei den Auswanderern mit persönlichen Motiven, wie Verschuldung, Ehekrisen, vorehelichen Schwangerschaften oder verwehrter Heiratserlaubnis verbinden. Anziehend wirkten die Versprechungen vom eigenen Hof und Grund, zeitlich begrenzter Freiheit von Abgaben, Beihilfen für die Zeit der Ansiedlung und die Befreiung vom Militärdienst. Sicher spielte bei vielen auch Abenteuerlust eine Rolle.
Die Emigranten setzten sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammen: Bauern und Handwerker, Tagelöhner, Knechte und Mägde, Gesellen und Lehrlinge, Pfarrer und Lehrer, Spezialisten und Ungelernte, Ledige und Verheiratete, Familien mit kleinen, größeren oder erwachsenen Kindern, Schwangere und Witwen, Begüterte und Arme.
Auch wenn der erste Zug nach Sathmar ein Misserfolg gewesen war, waren sich Kaiser Karl VI. und die ungarischen Grundherren einig, dass man weitere Kolonisten ins Land holen wollte. 1723 wurde auf dem Landtag in Pressburg die sog. Impopulation zum offiziellen Staatsprogramm erhoben. Neben der grundherrlichen Ansiedlung verlief die gleichzeitig von der Habsburgermonarchie fortgeführte staatliche Ansiedlung bis ins frühe 19. Jahrhundert in folgenden Perioden:
Karl VI. (1711-1740) suchte für seine Kolonisationsvorhaben vorab den Kontakt zum Schwäbischen Reichskreis und versprach, nur Familien anzunehmen, die sich mit vollständigen Entlasspapieren ihrer alten Herrschaft bei den Werbekommissaren meldeten. Unter der Leitung des verdienten Feldherrn Claudius Florimund Graf Mercy (1666-1734) wurden bis 1726 im habsburgischen Banat 3.000-4.000 Familien in mehr als 60 Orten angesiedelt. Gleichzeitig bevölkerte der Graf seine eigenen Güter in der Schwäbischen Türkei (das Gebiet um Fünfkirchen/ Pécs) mit Auswanderern. 1726 wurde die Ansiedlung im habsburgischen Banat vorübergehend gestoppt und erst 1734 wieder aufgenommen. Erneute Kämpfe gegen die Osmanen (1737-1739) und der Ausbruch der Pest (1738) brachten die Bemühungen um Kolonisten zum Erliegen.
Unter Maria Theresia (1740-1780) kam es während des Österreichischen Erbfolgekrieges und des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) immer wieder zu Unterbrechungen der kaiserlichen Impopulationspolitik, die erst danach unter dem Leitsatz des „ubi populus, ibi obulus“ – „Wo es Untertanen gibt, gibt es Steuern“ – neuen Schwung erhielt. Das 1763 erlassene Kolonisationspatent Maria Theresias für Ungarn, Siebenbürgen und das Temeswarer Banat lockte mehr als 9.000 Familien. Der Zulauf aus dem Reich erreichte seinen Höhepunkt in den Jahren 1769-1771, als allgemeine Teuerung und Missernten den Leidensdruck der Bevölkerung im Südwesten zusätzlich erhöhten. Maria Theresia suchte vor allem vermögende Familien katholischer Konfession. Legendär ist ihr Satz: "Protestanten sind schlechtes Gesind; besser keins als so gefährliches Volk!" Allerdings ließ sich dieser Anspruch nicht immer durchhalten, und die ungarischen Grundherren nahmen durchaus auch protestantische Auswanderer auf. Hatte man anfangs die Kolonisten noch durch sogenannte Bauernwerber angeworben, organisierte man nach 1763 das Werbewesen straffer und richtete in Frankfurt (Main), Koblenz (Rhein) und Rottenburg (Neckar) feste Kommissariate ein, bei denen sich die Interessenten registrieren lassen mussten. Insgesamt legten die Habsburger wenig Wert auf lautstarke Werbung, bewegten sie sich doch verfassungsrechtlich auf unsicherem Boden, da 1768 die Auswanderung in Gebiete, die nicht zum Reich gehörten (wie auch Ungarn!), verboten wurde.
Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 warben auch andere europäische Herrscher im süddeutschen Raum um Kolonisten, allen voran Zarin Katharina II. von Russland (1762-1796) und König Friedrich II. von Preußen (1740-1786), der damit die Tradition seiner Vorgänger fortsetzte. Beide garantierten den Auswanderern Religionsfreiheit, was ihre Länder für emigrationswillige Protestanten, die in Ungarn nicht willkommen waren, interessant machte. Auch ein Mindestvermögen wurde von den Auswanderern nicht ausdrücklich verlangt. Eine dauerhafte Konkurrenz im 18. Jahrhundert wurde Nordamerika, wohin jährlich Tausende emigrierten.
Das Toleranzedikt Josephs II. (1780-1790) von 1781, das Nichtkatholiken die freie Religionsausübung in seinen Ländern zugestand, löste zusammen mit den günstigen Ansiedlungsbedingungen eine Auswanderungswelle protestantischer Kolonisten aus, die auch das Ulmer Territorium erfasste. Neben 10 Jahren Steuerfreiheit versprach man den Auswanderern u. a. ein Haus, Ackerland, ein Paar Ochsen, zwei Pferde, eine Kuh sowie Arbeitsgeräte. Insgesamt holte Joseph II. zwischen 1784 und 1787 etwa 45.000 Menschen nach Ungarn. Darunter waren auch ca. 800-1.000 Ulmer Untertanen aus dem Territorium der Reichsstadt, die hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen wollten. Bauern, Knechte, Tagelöhner und Weber stellten die größte Gruppe der Auswanderer, dazu kamen Schneider, Schuhmacher, Zimmerleute, Schäfer, Schmiede, Wagner, Strumpfstricker, Müller, Kübler und Maurer. Geislingen und das Filstal stellten die Mehrheit der Auswanderer, der Rest verteilte sich gleichmäßig über die Alb. Aus der Stadt selbst wanderten nur wenige aus. Wer Ulm oder das Territorium verlassen wollte, musste zunächst einen Antrag bei der zuständigen Behörde stellen: Für die Stadtbevölkerung war dies das Bürgermeisteramt, für die Untertanen auf dem Land das Herrschaftspflegamt. Hatte man alle noch eventuell ausstehenden Schulden und die fälligen Gebühren (Emigrations- und Nachsteuer, "Brautlaufgebühr" für Ledige, Freikauf von der Leibeigenschaft für Untertanen, Ausstellung von Pässen, Geburtsbriefen, Taufscheinen etc.) bezahlt, wurde die Emigrationserlaubnis erteilt. Die meisten Ulmer Emigranten wurden in der Batschka zwischen Donau und Theiss angesiedelt, vor allem in protestantischen Orten, die heute meist in der serbischen Wojwodina liegen. Auch nach dem Tod Josephs II. 1790 ging die Kolonisation unter Leopold II. (1790-1792) und Franz II. (1792-1835) – wenn auch in erheblich reduziertem Umfang – weiter.
In der Reichsstadt Ulm hinterließen diese Auswanderungsbewegungen des 18. Jahrhunderts ihre Spuren. Zwar spielte Ulm im politischen und damit einhergehend auch im kulturellen Bereich als Tagungsort des Schwäbischen Reichskreises nach wie vor eine bedeutende Rolle, in wirtschaftlicher Hinsicht konnte man allerdings nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) und dem Spanischen Erbfolgekrieg nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen und litt unter einer enorm hohen Verschuldung. Die beiden Gewerbe, die von den Auswanderern am meisten profitierten, waren die Wirte und die Schiffer.
Den Aufenthalt in der Stadt mussten die Auswanderer aus eigener Kasse bestreiten. Übernachtungen waren nur in konzessionierten Herbergen erlaubt, bei Privatpersonen hingegen untersagt. Während die Gesandten des Schwäbischen Reichskreises in den vornehmeren Herbergen abstiegen, wählten die Auswanderer die einfacheren Herbergen. Über genaue Zimmer- und Verpflegungspreise fehlen zwar aussagekräftige Angaben, allerdings kann festgehalten werden, dass die Wirte sehr bemüht waren, die einträglichen Geschäfte am Laufen zu halten, wie ihr Engagement für die Auswanderer während der Aus- und Rückwanderungswelle 1712/13 oder der Hungersnot 1770/1771 zeigt. Für die Verbreitung von neuen Regelungen zum Auswanderungswesen waren die Herbergen eine wichtige Informationsbörse. Gelegentlich kümmerten sich die Wirte um kranke Auswanderer, halfen bei Geburten und übernahmen Patenschaften (wie 1744 der Wirt im "Goldenen Löwen" oder 1785 der Wirt in der "Scheibe"). In den Herbergen bahnten sich Ehen an und es wurde in Ausnahmefällen – wie 1788 in der "Goldenen Gans"– auch Hochzeit gefeiert. Versorgen konnte man sich aber nicht nur in den Herbergen, sondern auch in den zahlreichen Wirtschaften, auf den Märkten oder in den Läden der Stadt.
Problematisch war im protestantischen Ulm die seelsorgerische Betreuung der katholischen Auswanderer. Das Augustinerchorherrenstift St. Michael zu den Wengen besaß zwar eine Ausnahmegenehmigung, Auswanderer trauen zu dürfen (insgesamt 550 Paare im 18. Jahrhundert), doch erhob der Rat immer wieder Einwände. Ab 1770 mussten alle Trauungen durch die protestantischen Münsterprediger vorgenommen werden. Einige Paare ließen aus Glaubensgründen die Trauung heimlich im Wengenstift wiederholen. Gleiches gilt für die Taufen von Auswandererkindern. Wer krank wurde und den Beistand eines katholischen Geistlichen brauchte, musste erst eine Sondergenehmigung einholen. Den Wengengeistlichen war bis 1786 auch der Besuch von katholischen Kranken im Spital verboten. Die Patienten wurden erst in das Gasthaus "Zur Laus" gegenüber vom Spital gebracht, wo die Geistlichen in einem Nebenraum die Krankensalbung erteilen durften. Um die Stadtkasse zu schonen, vermied man in Ulm Beihilfen für durchreisende Emigranten. Als 1803 einige Familien aus Lothringen das letzte Schiff nach Russland verpassten und in den folgenden Wochen ihr gesamtes Hab und Gut verkaufen mussten, um ihr Überleben zu sichern, brachte man die Erwachsenen auf Kosten der Stadt im Spital, ihre Kinder dagegen im Waisenhaus und bei Lohnmüttern unter.
Für die Ulmer Schiffer, die seit dem Mittelalter mit Flößen und seit 1570 zusätzlich mit Zillen donauabwärts Waren und Menschen transportierten, waren die Auswanderer eine willkommene Einnahmequelle. Die Fahrt bis Wien dauerte durchschnittlich 8-10 Tage, nur wenige Ulmer Schiffe fuhren weiter nach Ungarn. Die Fahrtkosten für Erwachsene und Kinder betrugen bis Wien etwa 1 Gulden 30 Kreuzer. Die Schiffe fuhren nur tagsüber, bei Anbruch der Dunkelheit wurde angelegt und entweder auf dem Schiff, am Ufer oder – wer es sich leisten konnte – in einer Herberge übernachtet. Auf den Auswandererschiffen drängten sich in den Hauptreisemonaten April–Juni bis zu 300 Passagiere. Am Zielort wurden die Zillen, die später unter dem Namen "Ulmer Schachteln" bekannt wurden, verkauft oder als Bau- und Brennholz zerlegt. Die Schiffer kehrten auf dem Landweg nach Ulm zurück.
 
Dr. Gudrun Litz (Stadtarchiv Ulm)