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Integration von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen seit 1945

Ankunft von heimatvertriebenen Sudentendeutschen aus der Tschechoslowakei am Ulmer Hauptbahnhof im Mai 1946

© Stadtarchiv Ulm

Ankunft von heimatvertriebenen Sudentendeutschen aus der Tschechoslowakei am Ulmer Hauptbahnhof im Mai 1946

Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1950 wurden über 12 Millionen deutsche und deutschstämmige Heimatvertriebene auf dem Gebiet des heutigen Deutschland aufgenommen. Diese stammten im wesentlichen aus den östlich der Oder und Neiße gelegenen Gebieten des Deutschen Reichs, die von den Alliierten auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis zum 2. August 1945) Polen und der Sowjetunion unterstellt wurden, aus dem Sudentenland (deutsch besiedeltes Gebiet in der Tschechoslowakei) sowie aus deutschen Siedlungsgebieten in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Die Verteilung dieser Heimatvertriebenen auf die deutschen Länder war sehr unterschiedlich. Während im Jahr 1950 in Schleswig-Holstein der Anteil der Heimatvertriebenen an der Wohnbevölkerung bei einem Drittel und in Mecklenburg-Vorpommern sogar bei 45 % lag, war der Anteil in Rheinland-Pfalz mit 5 % sehr gering. Diese niedrigen Zahlen kommen daher, dass Rheinland-Pfalz zur französisch besetzten Zone gehörte und sich die französische Militärregierung bis 1948 weitgehend dagegen sträubte, überhaupt Heimatvertriebene aufzunehmen. Ab 1948 kam es zu einer Binnenumsiedlung von Heimatvertriebenen aus den am stärksten belasteten Ländern der westlichen Besatzungszonen Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern in die Länder der französischen Zone (Württemberg-Hohenzollern, Baden, Rheinland-Pfalz).
Die Flüchtlingsströme spiegeln sich auch in den Ulmer Zahlen wider. Am Jahresende 1950 lebten 8052 Heimatvertriebene in Ulm, das waren 11 % der Wohnbevölkerung. Ulm war auch in soweit als Drehscheibe für Flüchtlingstransporte prädestiniert, da es mit den Werken der ehemaligen Bundes- bzw. Reichsfestung und den Kasernen zahlreichen Menschen Unterkunft bieten konnte und außerdem an einem Verkehrsknotenpunkt sowie nur wenige Kilometer von der französischen Zone entfernt lag.
Nachdem das im Mai 1945 eröffnete Übernachtungslager in der Wagnerschule zu klein geworden war, richtete man in der aus dem Jahr 1866 stammenden Kienlesbergkaserne im Juli 1945 ein "Staatliches Durchgangslager" ein, das zweitgrößte der zehn Durchgangslager im damaligen Land Württemberg-Baden (nördlicher Teil des heutigen Baden-Württemberg). Im Oktober 1945 traf dort der erste Transport mit Vertriebenen aus Schlesien ein. In der Regel war das Lager mit 1800 Menschen belegt, die für einige Tage oder Wochen blieben und notdürftig medizinisch versorgt wurden, ehe sie in neue Unterkünfte verteilt wurden. Zwischen 1945 und 1952 kamen neben 200.000 heimkehrenden Wehrmachtssoldaten mehr als 250.000 Flüchtlinge auf dem Kienlesberg an. Die meisten wurden aufgrund der prekären Wohnraumsituation in der Stadt auf ländliche, vom Krieg meist verschonte Gemeinden verteilt, so dass im Landkreis Ulm 1950 etwa doppelt so viele Heimatvertriebene wie in der Stadt Ulm lebten. Die ländlichen Gemeinden waren häufig in ihrer Wirtschaftsstruktur überfordert, da Arbeitsplätze meist nur im landwirtschaftlichen Bereich vorhanden waren. Außerdem verursachte die zwangsweise Zuweisung von Heimatvertriebenen oft Spannungen mit den Einheimischen: Die Vertriebenen, die durch Flucht und Vertreibung mittellos und häufig traumatisiert waren, hausten in der Regel mit ihren Familienangehörigen in einem Zimmer und teilten sich mit den Wohnungsinhabern Küche und sanitäre Einrichtungen. Manche Vertriebene besaßen in der Heimat große Höfe mit Gesinde und fanden sich nun selbst als Knechte und Mägde wieder. Einige ursprünglich rein evangelische oder katholische Dörfer wurden durch den Zuzug von Flüchtlingen zu Gemeinden mit gemischter Konfession. Auch die Dialekte der Vertriebenen wurden häufig von der ortsansässigen Bevölkerung als fremdartig erfahren. Erst die Verbesserung der Wohnraum- und Arbeitsverhältnisse ließ im Lauf der 50er Jahre den Zuzug von Flüchtlingen in den städtischen Bereich erheblich ansteigen.
Durch das Lastenausgleichsgesetz von August 1952 erhielten die Vertriebenen teilweise finanzielle Entschädigung für die durch die Vertreibung entstandenen Schäden an Vermögenswerten.
Doch kaum waren die Heimatvertriebenen notdürftig untergebracht, kam es ab 1953 zu einer erneuten Flüchtlingswelle. Die zunehmende Sowjetisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR, die Erhöhung der Arbeitsnormen sowie die Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 ließen den Flüchtlingsstrom in den Westen anschwellen. In Ulm wurden die Sedankaserne, die Untere Kuhbergkaserne und die Wilhelmsburg zur vorübergehenden Heimat von mehreren tausend Menschen. Bis in die frühen 1960er Jahre lebten zeitweise über 4000 Menschen in der Wilhelmsburg, in der eine Stadt im Kleinen mit Schule, Kindergarten, Bücherei, Küchen, Kaufläden, einem Postamt, einem Theater sowie einer evangelischen und katholischen Kirche entstand. Nachdem durch den Mauerbau in Berlin 1961 die letzte Fluchtmöglichkeit verbaut war, leerten sich auch die Ulmer Flüchtlingslager, die kurz darauf aufgelöst wurden.
Die Vertriebenen organisierten sich schon bald in eigenen Verbänden und Landsmannschaften. Diese luden zu regelmäßigen Treffen ein, in denen man kulturelle Ziele verfolgte und die Erinnerung an das Brauchtum und die verlorene Heimat pflegte. Obwohl die Vertriebenenverbände in der am 5. August 1950 in Stuttgart verkündeten "Charta der Heimatvertriebenen" feierlich auf Rache und Vergeltung für erlittenes Unrecht verzichteten, gaben sie ihre Ansprüche an die Gebiete östlich von Oder und Neiße nicht auf. Die Oder-Neiße-Grenze wurde erst mit Abschluss des "Zwei-plus-vier-Vertrags" zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und den vier Alliierten im Jahr 1990 als polnische Westgrenze endgültig anerkannt.
Außerdem traten die Heimatvertriebenen mit Veranstaltungen und Kundgebungen an die Öffentlichkeit. Beispielhaft sei hier die vom 30. November bis 21. Dezember 1947 dauernde und in der Kienlesbergkaserne stattfindende Neubürger-Ausstellung "Neues Schaffen" erwähnt, auf der Flüchtlingsbetriebe ihre Erzeugnisse ausstellen konnten.
Auf politischer Ebene gründeten die Vertriebenen Parteien wie die "Deutsche Gemeinschaft – Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (DG-BHE )" und die nur in der Kommunalpolitik tätigen Vereinigungen wie die "Liste der vertriebenen Deutschen (LvD)" und die "Überparteiliche Liste der Heimatvertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge (ÜLdH)", die bis Anfang der 1960er Jahre im Ulmer Gemeinderat vertreten waren.
Die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge wurde bis ca. Ende der 1950er Jahre vollzogen. Das ist u.a. ablesbar an den zurückgehenden Wahlerfolgen der Vertriebenen-Parteien, an Mitgliedschaften von Heimatvertriebenen in Vereinen der neuen Wohnorte, an Eheschließungen mit Einheimischen, an der Übernahme der Dialekte der neuen Heimat (spätestens in der 2. Generation) sowie an der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die den Vertriebenen die Teilhabe am Wirtschaftswunder und damit auch den Bau von Eigenheimen in der neuen Heimat ermöglichte. Die erfolgreiche Integration entzog außerdem revanchistischen Tendenzen in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend den Nährboden.
 
Matthias Grotz (Stadtarchiv Ulm)