Ulmer Juden und das Exil zwischen 1933 und 1945
Nach der Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus Ulm im Jahr 1499 gab es für mehr als drei Jahrhunderte nur vereinzelt Juden in der Stadt, denen die kurzzeitige Einreise, vor allem zum Zwecke des Handels, gestattet war. Erst am Beginn des 19. Jahrhundert konnten sich wieder Juden in der Stadt ansiedeln. Im Zuge der rechtlichen Judenemanzipation des 19. Jahrhunderts etablierte sich die jüdische Gemeinde. Vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte brachten es Ulmer Juden zu gesellschaftlichem Ansehen, wirtschaftlichem Erfolg und in begrenztem Umfang auch zu politischen Ämtern. Der Bau der Synagoge auf dem Weinhof in den Jahren um 1870 sowie die Bildung einer selbstständigen jüdischen Gemeinde 1888 waren Meilensteine dieser Aufwärtsentwicklung. 1880 erreichte die jüdische Gemeinde in Ulm mit 694 Mitgliedern ihren Höchststand. Zeitgleich mit dem gelingenden gesellschaftlichen Aufstieg der Juden wuchs auf der anderen Seite in Teilen der Bevölkerung auch das Ressentiment gegen diese Bevölkerungsgruppe. Handelte es sich bei der Judenfeindschaft früherer Jahrhunderte um einen (freilich auch wirtschaftlich motivierten) religiös begründeten Antijudaismus, so entstand im 19. Jahrhundert ein Rassenantisemitismus, der im wilhelminischen Deutschland weite Verbreitung fand, sich in politischen Gruppierungen Gehör verschaffte und auch nach dem Ersten Weltkrieg (der auf deutscher Seite unter erheblichem Blutzoll jüdischer Soldaten geführt worden war) in der Weimarer Republik ideologisch, aber auch in Gewalttaten und Anschlägen seine Fortsetzung fand.
Sofort nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten begann die systematische Beseitigung der Substanz des Rechtsstaates. Die Diskriminierung der Juden hatte dabei hohe Priorität. Dies führte auch in Ulm zu Auswanderungsplänen. Bereits 1933 traf die weitsichtige jüdische Reformpädagogin Anna Essinger wegen der nationalsozialistischen Schulpolitik die Entscheidung, das von ihr geleitete Landschulheim Herrlingen aufzugeben. Mit 66 Kindern des Heimes gelang ihr die Übersiedlung nach Südengland, wo sie im Oktober den Schulbetrieb wieder aufnehmen konnte . Zu den wenigen Ulmer Juden, die bereits im Jahr 1933 aus politischen Gründen den Entschluss zur Auswanderung umsetzten, gehörte auch Alfred Moos, der zunächst nach London und von dort 1935 nach Palästina emigrierte und der nach seiner Rückkehr nach Ulm 1953 engagiert am öffentlichen Leben teilnahm.
In Deutschland dagegen beeinträchtigten Boykotte, Berufsverbote, rechtliche Diskriminierung, gipfelnd in den Nürnberger Gesetzen, und andere Maßnahmen das Leben der Juden immer massiver. Knapp zwei Drittel der 530 am Stichtag 31.1.1933 in Ulm lebenden Juden trieb diese Verfolgung während der zwölfjährigen nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ins Exil.
Bereits seit 1937 wurde die Ausstellung von Pässen für Juden restriktiv gehandhabt und praktisch nur noch zum Zweck der Ausreise durchgeführt. Aufgrund einer Verordnung vom 5. Oktober1938 wurden alle Reisepässe von Juden ungültig und mussten bei den Behörden eingereicht werden. Die mit Geltung für das Ausland ausgestellten Papiere erhielten nach Kennzeichnung mit einem großen „J“ für Jude ihre Gültigkeit wieder. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 eskalierte die Judenverfolgung. Wie in anderen Städten, so wurde auch in Ulm auf Anordnung von Propagandaminister Goebbels die Synagoge in Brand gesetzt. Auch kam es in der Nacht zu vom Regime als spontan deklarierten, tatsächlich aber genau geplanten Gewaltexzessen, u.a. auf dem Weinhof. 55 Ulmer Juden wurde verhaftet , ein Teil von ihnen ins KZ Dachau gebracht. Eine Entlassung jüdischer Inhaftierter war teilweise auch schon vor der Reichspogromnacht mit der Auflage verbunden, die eigene Auswanderung beschleunigt zu betreiben.
Die Entwicklung der Zahl aus Ulm ausgewanderter Juden bildet die forcierte Diskriminierung und Terrorisierung ab. Nach der Reichspogromnacht war ein rapider Anstieg zu verzeichnen. Neben dem mit zunehmendem Alter wachsenden grundsätzlichen Unbehagen, die angestammte Heimat zu verlassen, gab es eine Reihe praktischer Hindernisse für die Auswanderungswilligen. Fehlende Sprachkenntnisse, hohe Reisekosten, die von den Nationalsozialisten verlangten Abgaben und damit verbundene Vermögensverluste verringerten die Bereitschaft zur Auswanderung. Allerdings gab es auch Restriktionen in den potentiellen Einreiseländern, etwa was eine Arbeitserlaubnis betraf. Für die Einreise in die USA war ein „Affidavit“ nötig, die Bürgschaft eines bereits im Land lebenden Verwandten oder Bekannten. Übliche Unterstützungsleistungen für Auswanderungswillige waren auch allgemein gehaltene Empfehlungsschreiben, wie sie etwa Albert Einstein ausstellte.
1939 wurden die noch in Ulm verbliebenen Juden in „Judenhäuser“ eingemietet, eine Art Zwangsghettoisierung in kleinem Maßstab. Unterdessen wandelte sich die Stoßrichtung der nationalsozialistischen Judenpolitik immer offener von der möglichst vollständigen Auswanderung der Juden aus dem Reich hin zur von Hitler bereits 1939 angekündigten „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Eine „ordnungsgemäße“ Auswanderung war seit 1940 kaum noch möglich. Im Juli 1941 gab Göring den schriftlichen Befehl zur Planung der angestrebten „Endlösung der Judenfrage“. Zum Ende des Jahres 1941 wurde die Auswanderung von Juden aus dem Reich endgültig verboten. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 diente schließlich der Koordinierung bereits laufender und noch umzusetzender Maßnahmen zur Ermordung der europäischen Juden. Fortan waren alle Anstrengungen auf die Deportation der Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten gerichtet.
Thomas Müller (Schubart-Gymnasium)