„Wir trinken noch ein gut’ Glas Wein und lassen Deutschland Deutschland sein“. Diesem Motto folgten zwischen 1815 und 1914 knapp 7 Millionen Deutsche. Vor Iren und Briten bildeten sie zahlenmäßig die größte Einwanderungsgruppe.
Nach dem Beginn der Amerika-Auswanderung Ende des 17. Jahrhunderts, setzte ab 1815 eine Periode der Massenauswanderung aus Südwestdeutschland ein. Mindestens 400.000 Menschen verließen allein bis zum Zeitpunkt der Gründung des Deutschen Reiches das Königreich Württemberg. Ihren Höhepunkt erreichte die württembergische Auswanderungsbewegung zwischen 1846 und 1855. Eine Reihe von Missernten, sowie der „Hungerwinter“ 1852 führten dazu, dass sich die herrschende Agrar- und Wirtschaftskrise zuspitzte. Diese traf Ulm zwar vergleichsweise schwach, verschärfte aber auch hier die Lage der Bevölkerung insbesondere durch einen Anstieg der Nahrungsmittelpreise. Gerade kleine Handwerksmeister in fast allen Betrieben bekamen die Krise zu spüren.
Parallel zu dieser Entwicklung stieg die Bevölkerung sprunghaft an. Zwischen 1834 (15.173 Einwohner) und 1900 (42.680 Einwohner) verdreifachte sich die Einwohnerzahl Ulms beinahe. Die Erwerbsmöglichkeiten nahmen aber nicht im gleichen Maße zu und dadurch erhöhte sich der Auswanderungsdruck.
Diese Probleme spiegeln sich in der Anzahl der Menschen wider, die sich zur Emigration nach Nordamerika entschlossen. Während bis zur Mitte des Jahrhunderts nur vereinzelt Menschen nach Nordamerika auswanderten, verließen zwischen 1849 und 1855 nach Quellenlage im Stadtarchiv Ulm (Bürgerrechtsverzichte) weit über 100 Personen die Stadt mit diesem Ziel. Einer dieser Auswanderer war der Ulmer Journalist Georg Bernhard Schifterling, eine der führenden Persönlichkeiten der 1848er Revolution in Südwestdeutschland und Mitbegründer der württembergischen Arbeiterbewegung. Er wurde wegen Majestätsbeleidigung angeklagt, von Ulmer Bürgern befreit und entschloss sich nach dem Scheitern der Revolution im Juli 1849 zur Auswanderung in die Vereinigen Staaten. Auch viele Ulmer Handwerker und Arbeiter unterstützen die Forderung nach einem deutschen Nationalstaat. Während im Fall von Schifterling politische Gründe eine maßgebliche Rolle spielten, standen beim Großteil der Auswanderer wirtschaftliche Motive im Vordergrund.
Von staatlicher Seite wurde Auswanderung auch als eine Art soziales Ventil betrachtet, um ungeliebte Bürger loszuwerden. Die Hospitalstiftung in Ulm stand hierbei mit finanzieller Unterstützung zur Verfügung. Um ausreisen zu dürfen, mussten die Auswanderungswilligen ihre Absicht öffentlich kundtun. Sie unterzeichneten eine so genannte Bürgerrechts-Verzichts-Urkunde und legten ihre finanzielle Situation offen. Hierbei war eine Frist einzuhalten, um den Gläubigern die Möglichkeit zu geben finanzielle Ansprüche anzumelden. Ein wichtiges Kriterium für die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft war die Fähigkeit, die eigenen Reisekosten zu übernehmen. Für die Ärmsten der Armen blieb die Atlantikpassage zu kostspielig. Neben der offiziellen Auswanderung kam es auch in erheblichem Maße zu heimlicher Auswanderung derer, die ohne Wissen der Behörden das Land verließen. So betrug der Anteil der offiziellen an der tatsächlich erfolgten Auswanderung zwischen 1852 und 1855 nur 53%.
War die Ausreise genehmigt, traten die Menschen die beschwerliche Reise an. Zu Pferd oder auf Schiffen machten sie sich auf den Weg Richtung Bremen und Hamburg. Ein Faktor für die, trotz der weiten Entfernung zum Meer, hohen Auswanderungszahlen aus dem süddeutschen Raum war die günstige Verkehrsanbindung über den Rhein. Bei der Planung und Organisation der Reise spielten Agenten eine wichtige Rolle. Sie legten Abfahrtstermine und Fahrtrouten fest und sorgten für Versorgung und Unterbringung der Ausreisenden in den Hafenstädten. Auch wenn sie unverzichtbar waren, hatten Agenten oft einen schlechten Ruf, und ihr Geschäft trug den Makel des Menschenhandels.
Auswandererbriefe bilden einen enormen Fundus an Quellen, die Auskunft über das Leben in der neuen Heimat geben. Sie stellten für die Menschen eine Brücke zwischen den Ausgangs- und Endpunkten der Auswanderung dar. Dennoch ist ihr Inhalt kritisch zu hinterfragen. Ein Scheitern in der neuen Umgebung wollten die wenigsten Auswanderer zugeben. So führten positiv gefärbte Berichte zu weiteren Auswanderungen von Freunden und Bekannten (Kettenwanderung). Unterstützend wirkten auch die Einwanderwerbungen aus den USA. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts unternahmen die einzelstaatlichen Regierungen gezielt Anstrengungen zur Anwerbung von Siedlern und Arbeitskräften. Eigens gegründete Büros wandten „moderne“ Werbemethoden wie das Verschicken von Broschüren oder ganzer Handbücher an. Als weiterer Anreiz für die Auswanderer diente der 1862 erlassene Homestead Act. Er sicherte den Zugezogenen günstigen Landerwerb zu.
Die Mehrheit der deutschen Siedler ließ sich im Nordosten und im Mittleren Westen der USA nieder. In Minnesota lebten 1870 schon 80.000 deutschstämmige Bürger. Zwischen 1850 und 1857 verzeichnete der Staat eine jährliche Zunahme der Einwohnerzahl von 59%. Hier wurde im Jahr 1854 die Stadt New Ulm gegründet. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielte Wilhelm Pfänder. Pfänder, ein gebürtiger Heilbronner, war 1846 an der Gründung des Ulmer Turnvereins beteiligt gewesen. Obwohl er kein politischer Flüchtling war, zeigte er doch Sympathien für die Revolutionäre von 1848.
Im März 1848 wanderte er nach Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio aus und begann rasch auch dort eine Turnergemeinde zu organisieren. 1855 gründete diese Turnergemeinschaft ein Komitee, das eine Siedlungsgemeinschaft organisieren sollte, um einen geeigneten Aufenthaltsort zu finden. Die Wahl fiel auf den von der Chicago Land Society 1854 gegründeten Ort New Ulm. Pfänder war maßgeblich am Kauf des Landes von der finanziell angeschlagenen Gesellschaft beteiligt. New Ulm zog in den Jahren nach seiner Gründung viele deutschstämmige Einwanderer an. Nach einem Zensus aus dem Jahr 1860 waren von den 635 Einwohnern 266 aus Deutschland zugewandert. Noch heute sind 66% der Einwohner deutscher Abstammung. Das Hermann Heights Monument, das dem Herrmannsdenkmal bei Detmold nachempfunden ist, ein Oktoberfest und der jährliche Fasching zeugen noch heute von den deutschen Traditionen.
Björn Nord (Kepler-Gymnasium)