Berufliche Schulen
In reichsstädtischer Zeit oblag die Ausbildung der Lehrlinge
ausschließlich den Zünften und ihren Meistern, die auch für die Lehrinhalte und
das Prüfungswesen zuständig waren. Als erste Vorläufer eines berufsbegleitenden
Unterrichts für Lehrlinge sind die Anfang des 19. Jahrhunderts aufkommenden
Sonntagsgewerbeschulen anzusehen, deren Besuch freiwillig war. So wurde 1808
von den beiden Lehrern Johannes Trostel und Johann Jakob Seybold in Ulm eine
„sonntägliche Freischule" gegründet, die an Kenntnisse in Naturlehre,
Geografie, Rechnen und Schreiben vermittelte (M 1, M 2). Diese Einrichtung
blieb jedoch nur kurze Zeit bestehen.
Ein Erlass des Königlichen Studienrats, der württembergischen Schulaufsichtsbehörde,
vom 14. September 1825 forderte die größeren Städte im Königreich auf, die
Errichtung von Sonntagsschulen für junge Handwerker einzuleiten und zu fördern
(M 3). Nachdem sich Stadt- und Stiftungsrat über die Finanzierung verständigt
hatten, konnte die Ulmer Sonntagsgewerbeschule am 2. April 1826 feierlich
eröffnet werden. Der Unterricht umfasste die Fächer Rechnen, Zeichnen,
Naturlehre, Geographie, Mechanik (Maschinenlehre) und allgemeine Technologie und
war auf vier bis fünf Stunden an Sonntagen angelegt, wobei nach Möglichkeit die
Gottesdienstzeiten ausgespart bleiben sollten. Die Nachfrage nach Schulplätzen
war hoch. So lag die Gesamtzahl der Schüler zum 1. März 1829 schon bei 363
Schülern.
Nicht zu verwechseln mit den Sonntagsgewerbeschulen sind die
nach dem württembergischen Volksschulgesetz vom 29. September 1836 vorgeschriebenen
allgemeinen Sonntagsschulen. Artikel 3 dieses Gesetzes bestimmte die Sonntagsschulen
als Fortsetzung der Volksschulen und Artikel 6 verpflichtete alle aus der
Volksschule Entlassenen bis zum 18. Lebensjahr zum Besuch der Sonntagsschule, „soweit
sie nicht eine höhere Lehranstalt oder eine Sonntags-Gewerbeschule besuchen
oder einen anderen, nach dem Ermessen der Orts-Schulbehörde genügenden
Unterricht erhalten".
Auf Betreiben der 1848 gegründeten Zentralstelle für Gewerbe und
Handel wurde 1854 in Ulm - wie auch in anderen größeren Orten Württembergs - eine
gewerbliche Fortbildungsschule gegründet, die an Werktagen außerhalb der
regulären Arbeitszeit meist in den Abend- oder frühen Morgenstunden Unterricht in
Fächern wie Rechnen, Geometrie und technisches Zeichnen anbot (M 4, M 5). Für
die kaufmännischen Lehrlinge wurde eine Handelsabteilung angegliedert, in der ebenfalls
außerhalb der Arbeitszeiten z.B. kaufmännisches Rechnen, Buchführung,
Korrespondenz und Fremdsprachen gelehrt wurden. Sonntagsgewerbeschule und gewerbliche
Fortbildungsschule beruhten beide auf dem Prinzip der Freiwilligkeit, unterschieden
sich jedoch durch das bei der letztgenannten breitere Angebot bei höherem
Schulgeld. Mit der Pensionierung von Dr. Nagel, dem
Leiter der Fortbildungsschule, und der Übertragung der Leitung an Prof. Dr. Gustav
Veesenmeyer (1814 - 1901), dem Vorsteher der Sonntagsgewerbeschule, wurden
beide Einrichtungen im Jahr 1875 unter einem gemeinsamen Vorstand organisatorisch
vereinigt. 1868 wurde eine „weibliche Fortbildungsschule" mit den Fächern
Rechnen, Buchführung und geschäftliche Aufsätze, Schönschreiben und Französisch
eingerichtet (M 6). 1875 kam mit der Frauenarbeitsschule (M 7) eine weitere
Fortbildungsschule für Mädchen hinzu, die jedoch als Vollzeitschule betrieben
wurde und neben den allgemeinbildenden Fächern v. a. hauswirtschaftliche
Fertigkeiten wie Nähen und Sticken vermittelte.
Eine tiefgreifende Änderung des gewerblichen Schulwesens brachte
das "Gesetz betreffend die Gewerbe- und Handelsschulen" vom 22. Juli
1906, das zum 1. April 1909 in Kraft trat und bis dahin von den Gemeinden
umgesetzt werden musste. Es schrieb für alle Gemeinden mit durchschnittlich
mindestens 40 männlichen Arbeitern unter 18 Jahren die Einrichtung von Gewerbe-
und Handelsschulen im Tagesunterricht vor und verpflichtete die in gewerblichen
und kaufmännischen Betrieben beschäftigten männlichen Arbeiter unter 18 Jahren
zu einem dreijährigen Schulbesuch. Pro Schuljahr waren 280 Unterrichtstunden zu
erteilen. Für die Arbeiterinnen und weiblichen Lehrlinge gab es hingegen keine
gesetzliche Verpflichtung zum Berufsschulbesuch. Artikel 5 des Gesetzes räumte den
Gemeinden lediglich die Möglichkeit ein, entsprechende Schulen für Mädchen einzurichten
und den Schulzwang dann auch auf sie auszudehnen. Dazu war allerdings ein
Beschluss des Gemeinderats mit Zustimmung der Ortsschulbehörde erforderlich. In
den Jahren 1918 bis 1920 beschlossen Stadtrat und Gewerbeschulrat auf
Initiative des „Verein weiblicher Handwerkmeisterinnen", den
obligatorischen Gewerbeschulunterricht für Mädchen in Ulm einzuführen. Im
Frühjahr 1920 begann der erste Pflichtunterricht an der weiblichen
Gewerbeschule für Putzmacherinnen (= Hutmacherinnen), Schneiderinnen und Näherinnen
(M 8). Die Handelsschulpflicht für weibliche kaufmännische Angestellte wurde
durch Beschluss des Gemeinderats vom 21. Juli 1921 zum Frühjahr 1923
eingeführt. Aus Mangel an Lehrkräften und Schulräumen konnte die Schulpflicht in
Ulm jedoch erst 1927/28 auf alle Gewerbezweige ausgeweitet werden (M 9). Teilweise
widersetzten sich auch die Arbeitgeber von ungelernten Fabrikarbeiterinnen der
Berufsschulpflicht. Erst das Reichsschulpflichtgesetz von 1938 schrieb den Berufsschulbesuch
einheitlich im Reich unabhängig vom Geschlecht vor.
Neben den allgemeinen Gewerbe- und Handelsschulen gab es in Ulm
auch besondere Schulen für einzelne Wirtschaftszweige und besondere
Lebenssituationen. Zu nennen sind hier exemplarisch die 1872 auf dem Hofgut
Böfingen gegründete und 1874/75 in die Stadt verlegte Landwirtschaftsschule (M
10) mit einem Zuständigkeitsbereich für die Oberämter Ulm, Göppingen,
Geislingen, Heidenheim, Blaubeuren, Ehingen, Laupheim und Biberach, die im
Ersten Weltkrieg für Kriegsinvaliden eingerichtete „Verwundetenschule" mit
handwerklichen und kaufmännischen Kursen (M 12) sowie die 1919 gegründete,
kunstgewerblich orientierte „Ulmer Schule" (M 11).
Matthias Grotz (Stadtarchiv Ulm)