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Pädagogenpersönlichkeiten

Schule wird, wie Pädagogik überhaupt, nicht nur von politischen, strukturellen und institutionellen Gegebenheiten geprägt, sondern ganz maßgeblich von den konkreten Menschen, ihrem Charisma, ihrem Kommunikationstalent und dem Ausmaß ihrer Fähigkeit, zu anderen Personen, zu Gruppen und Institutionen langfristig tragfähige und vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Ulm brachte über mehrere Jahrhunderte eine ganze Reihe profilierter Pädagogenpersönlichkeiten hervor. Zu ihnen gehörten in reichsstädtischer Zeit unter anderen Martin Balticus (1532 bis 1600) und Johann Baptist Hebenstreit (gest. 1638). In späteren Jahrhunderten ragten beispielsweise Georg Veesenmeyer (1760 bis 1833) und Konrad Dietrich Haßler (1803 bis 1873) hervor, die beide weit über ihren schulischen Arbeitsbereich hinaus gewirkt und große Anerkennung erworben haben, Veesenmayer als Stadtbibliothekar und Schriftsteller, Haßler unter anderem als Abgeordneter und Landeskonservator. Eine prägende Gestalt des Ulmer Schulwesens, gerade auch im Hinblick auf dessen strukturelle Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert, war Christian Heinrich von Nagel (1803 bis 1882). Die Ulmer Schullandschaft des 20. Jahrhunderts schließlich wurde maßgeblich mitgeformt von Hermann Wild (1884 bis 1962), der auf lokaler und Landesebene als liberaler Politiker hervortrat und auch beim Wiederaufbau des Bildungswesens in den Jahren nach 1945 in verschiedener Funktion eine wichtige Rolle spielte.
Mit Martin Balticus und Christian Heinrich von Nagel werden im Folgenden zwei dieser prägenden Pädagogengestalten verschiedener Epochen exemplarisch vorgestellt.

Martin Balticus leitete die Ulmer Lateinschule von 1559 bis 1592. Er gehört zu den profiliertesten Persönlichkeiten, die dieses Amt im Laufe der Jahrhunderte innegehabt haben.
Über sein Leben sind wir recht gut informiert: Einerseits durch ihn selbst, denn in seinen Gedichten, insbesondere in seiner Elegie I 10, die an den Reformator Philipp Melanchthon gerichtet ist, erzählt er einiges über sein Leben. Außerdem gibt es Biografien über ihn bereits aus dem 18. und 19. Jahrhundert, in denen noch Originalquellen verwendet werden konnten, die inzwischen verschollen sind. Auch besitzt das Museum Ulm ein Ölportrait von ihm (M 1).
Nach seinen eigenen Angaben kam Balticus 1532 nahe bei München in bescheidenen Verhältnissen zur Welt (M 2). Einen großen Einfluss übte sein Lehrer Zacharias Weichsner auf ihn aus. Bei ihm unternahm er auch seine ersten dichterischen Versuche (M2). Im weiteren Verlauf seiner Ausbildung ging Balticus zunächst nach Joachimstal, wo der Theologe Mathesius, ein Freund Luthers, Rektor war. Bei ihm verbrachte Balticus sechs Jahre. Nach dem Tod seines Vaters benutzte er seine kleine Erbschaft, um nach Wittenberg zu gehen, in das direkte Umfeld von Philipp Melanchthon. Das Geld war allerdings bald aufgebraucht (M 2), und Balticus sah sich gezwungen, nach Bayern, genauer gesagt nach München, zurückzukehren. Im Jahre 1553 wurde er Schulmeister bei St. Peter und schon kurz danach „Poet“, d. h. Leiter der weltlichen Humanistenschule. Dort entstanden mehrere lateinische Dramen für das Schultheater. Balticus scheint in diesen Jahren zu einigem Wohlstand gekommen zu sein. Im Jahre 1556 heiratete er Barbara Hörl, die bereits drei Jahre später verstarb - möglicherweise im Kindbett, denn sie hinterließ ein Töchterchen (M 3). Nun setzte ein dramatischer Umschwung im Leben des Balticus ein: Als überzeugter Lutheraner hatte er im Unterricht Luthers Katechismus verwendet und damit bei den Jesuiten, deren Einfluss in Bayern gewaltig erstarkt war, heftigen Anstoß erregt. Dazu kam, dass sich Barbara noch auf dem Totenbett weigerte, sich zur „altkirchlichen Religion“ zu bekennen, woraufhin ihr ein Begräbnis in geweihter Erde verweigert wurde. Balticus wurde aus der Stadt verwiesen. Allerdings stellte ihm der Münchner Rat ein hervorragendes Zeugnis aus (M 4). Balticus hatte anscheinend beabsichtigt, nach Tübingen zu gehen, und machte auf der Reise Halt in Ulm, wo die Stelle des Rektors der Lateinschule gerade vakant war. Dabei kam er offenbar mit einigen der führenden Persönlichkeiten ins Gespräch, und man verpflichtete ihn, wie der „Ulmer Rat an den zu München“ am 10.11.1559 schrieb: „in sonderm fleißigem Bedenkhen, dass die Schul allhie vaciert, dieser Zeit nit versechen, und die liebe Jugent an Disziplin, Zucht und lehr treffentlich verabsaumpt wird.“ Balticus trat das Amt an. Erfolgreich setzte sich der neue Rektor für einige Neuerungen im Schulbetrieb ein: So fanden nun auch an der Ulmer Schule religiöse Schauspiele statt, aus bisher fünf Klassen wurden sechs (wobei es sich allerdings wahrscheinlich nur um die Teilung der übervollen Eingangsklasse handelte), er veranlasste die Einführung neuer, besserer Lehrbücher und machte einen zukunftsweisenden Vorschlag: Er plädierte nämlich dafür, zusätzlich zum bisherigen Lehrplan die Fächer Ethik, Physik, Arithmetik und Mathematik einzuführen. Der Gedanke fand zwar den Beifall des Rats, kam aber doch zunächst nicht zur Ausführung. Disziplinarisch scheint Balticus ein strenges Regiment geführt zu haben (M 5). In der Stadt konnte Balticus Fuß fassen. In zweiter Ehe heiratete er Sophie Vesenbeck, die Schwester des späteren Superintenden Vesenbeck; die beiden hatten wohl mehrere Kinder. 1565 kam es erstmals zu einem beruflichen Konflikt, und zwar mit einem Lehrer wegen der Art der körperlichen Züchtigung eines Schülers. Die Angelegenheit gelangte bis zur obersten Behörde, dem Pfarrkirchenbaupflegamt. Balticus beschwerte sich über die Eingriffe in seine Kompetenzen von kirchlicher Seite (M 6): Es muss zu einer Aussprache mit Superintendent Rabus gekommen sein, und das erstaunliche Ergebnis lautet: „Von dieser Zeit an war Rabus sein Freund und Verteidiger.“
1585 stand erneuter Ärger an - diesmal aus Anlass von Aufführungen des Schultheaters in deutscher Sprache (M7). 1589 wurden die Vorwürfe ernster: Balticus widme sich mehr seinem Garten als dem Unterricht, lasse Schüler dort Arbeiten verrichten und handle mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen; auch lasse er im häuslichen Bereich die Sitten verkommen. (M 8)
Superintendent Rabus hielt seine schützende Hand über Balticus, solange er konnte. Aber er wurde krank und starb 1592. Wie Stölzlin berichtet wurde bereits im Februar dieses Jahres dem Pfarrkirchenbaupflegamt ein Bedenken zugestellt, in dem man die Ablösung des Balticus forderte (M 9). Es ist nicht ganz klar, ob er entlassen wurde, oder ob er so unter Druck gesetzt wurde, dass er selbst seine Entlassung beantragte. Es gibt zwei unterschiedliche Quellen zu diesem Vorgang (M 10), im Endergebnis aber muss man festhalten: Balticus wurde nach zweiunddreißigjährigem Dienst ohne ausreichende Existenzgrundlage entlassen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zuletzt als Advokat. Im Jahre 1594 traf ihn ein weiterer, dieses Mal ein privater Schlag: Bei Reinhardstoettner findet sich die Wiedergabe einer Münchner Kammerrechnung: Ein Georg Balticus aus Ulm erhält vom Stadtrat von München zwölf Gulden Wegzehrung, da er katholisch geworden und darum von seinem Vater verstoßen worden sei und keine Hilfe von diesem mehr zu erwarten habe.
Martin Balticus starb im Jahre 1600. Fast 100 Jahre nach seinem Tod würdigt ihn 1698 Eberhard Rudolf Roth, der damalige Rektor der Ulmer Lateinschule, in seiner „Oratio prior de fatis Gymnasii Ulmensis“ mit folgenden Worten (S.23): „Er war […] ein ausgezeichneter Dichter, Redner, Philosoph, so dass in Folge dessen unter seiner Leitung die schulische Disziplin blühte, Sprachen und Wissenschaften hervorragend da standen, und der Ruf der Ulmer Schule sich über nahezu ganz Deutschland verbreitete.“

Ursula Silberberger (OStD i.R.)

Wie in den Kapiteln Schulwesen in württembergischer Zeit und Berufliche Schulen dargelegt, differenzierte sich das Schulwesen im 19. Jahrhundert aus. Ein wesentlicher Zweig der Erneuerung waren die „Realanstalten“, also Schulen, die einerseits eine „höhere“ Bildung vermitteln sollten, andererseits in stärkerem Maße als die Gymnasien eine beruflich-anwendungsbezogene Bildung in den Mittelpunkt stellten.
Nagel wurde in Ulm zum maßgeblichen Impulsgeber und auch Umsetzer dieser Entwicklung. Das vielfältige Wirken des Pädagogen ist in den Akten des Ulmer Stadtarchivs gut dokumentiert.
Der 1803 in Stuttgart geborene, aus bescheidenen Verhältnissen stammende Christian Heinrich Nagel durchlief als Gymnasiast in Stuttgart, Seminarist in Blaubeuren und schließlich als Theologiestudent in Tübingen einige der altehrwürdigen württembergischen Bildungsinstitutionen. Nach kurzem kirchlichem Dienst trat er zunächst in Tübingen in den Schuldienst ein, bevor er 1830 nach Ulm wechselte, wo er seine Lebensstellung fand. Hier setzte er auch konsequent sein pädagogisches Hauptanliegen um, den Auf- bzw. Ausbau des Realschulwesens. In den 1840er Jahren publizierte er mehrfach zu dem Thema, was ihm ein interessantes Stellangebot als Schulleiter in Wiesbaden einbrachte. Den württembergischen Schulbehörden gelang es aber, Nagels Abwanderung zu verhindern, indem sie ihm das Amt des Rektors der neu zu errichtenden Ulmer Realschule antrugen, das er von 1844 bis 1875 ausfüllte. Daneben gründete Nagel die von ihm 1854 bis 1876 auch geleitete gewerbliche Fortbildungsschule, die ebenfalls den Grundgedanken der anwendungsbezogenen beruflichen Bildung in den Fokus rückte.
Über sein pädagogisches Wirken hinaus engagierte sich Nagel politisch. Raberg bewertet Nagels Rolle als die eines konservativ-konstitutionellen „Strippenziehers im Hintergrund“. Auch im Ulmer Vereinswesen war Nagel aktiv, u. a. als Mitglied im Verein für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben (Gründung 1841), im Verein für vaterländische Naturfreunde in Württemberg und in der Gesellschaft für Mathematik und Naturwissenschaften (Gründung in Ulm 1865). Eine größere Zahl von Publikationen, ganz überwiegend aus der Zeit vor Antritt seines Rektorats, rundet Nagels Wirken ab. In ihnen beschäftigt sich der wissenschaftlich ambitionierte, promovierte und habilitierte Nagel mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Themen wie auch mit strukturellen Fragen der gewerblichen, „realistischen“ Bildung. Der Schiller-begeisterte Nagel war aber auch literarischen Themen zugeneigt.
Mit verschiedenen Orden und Ehrenbezeigungen (Ulmer Ehrenbürgerrecht, Nobilitierung usw.) hochdekoriert, starb Nagel 1882 in Ulm.

Thomas Müller (Schubart-Gymnasium)