Tabakindustrie

© Stadtarchiv Ulm
Tabakwerbung der Gebrüder Bürglen
In der Phase der Frühindustrialisierung in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Tabakindustrie zu einem
der bedeutendsten Gewerbezweige Ulms. In den 1830er Jahren waren zeitweise gut
300 Arbeiter in den Ulmer Betrieben tätig, fast die Hälfte aller in der
württembergischen Tabakindustrie Beschäftigten. Aber auch schon deutlich
früher, in den Jahren 1806/07, lässt sich ein Tabakboom in Ulm nachweisen. Laut
Jahresberichten des Stadtkommissariats Ulm erzielte man 1806/07 bei 12.000
Zentnern jährlich verarbeitetem Tabak, der vor allem aus der Pfalz und
Nordamerika stammte, einen Umsatz von 240.000 fl.[= Gulden] und erwirtschaftete
einen geschätzten Gewinn von 48.000 fl. jährlich.
Die Produktion fand überwiegend im Manufakturbetrieb statt, d.h. die einzelnen
Arbeitsschritte erfolgten in Arbeitsteilung bei geringem Mechanisierungsgrad. Dabei
war fast die gesamte Herstellung in einem Manufakturgebäude konzentriert.
Die meisten Produktionsabläufe wurden von Hand
ausgeführt. Der Rohtabak wurde zunächst vor seiner Weiterverarbeitung bis zu
eineinhalb Jahre in der Manufaktur getrocknet. Anschließend folgte die
Fermentation, ein Gärungsprozess, der den Tabak durch chemische und
enzymatische Prozesse veredelte und in einen verarbeitbaren Zustand brachte. Dazu
wurden die Tabakblätter zu einem großen Haufen übereinandergelegt und gestapelt.
Der Fermentationsprozess dauerte abhängig von der Art der Fermentierung und dem
Tabakprodukt bis zu einigen Monaten und
konnte durch zusätzliche Warmluft- und Feuchtigkeitszufuhr beschleunigt werden.
Nach der Fermentation wurden die Blätter entrippt, gemischt und aromatisiert.
Beim Aromatisieren (auch Soßen oder Saucierung genannt) benetzte oder besprühte
man die Blätter mit einer Flüssigkeit, die ihnen den typischen Geschmack,
Geruch und Farbton gab. Danach musste der Tabak ein weiteres Mal getrocknet
werden, was auch als „Rösten" bezeichnet wurde. Tabake, die zur
Herstellung von Rauchtabak vorgesehen waren, wurden anschließend unter
Zuhilfenahme von meist durch Muskelkraft angetriebenen Schneidemaschinen
geschnitten, während die als Schnupftabak Verwendung findenden Blätter üblicherweise
in Tabakmühlen pulverisiert wurden, die sich der Wasserkraft an der Blau als
Energiequelle bedienten. Laut Adressbuch von 1836 gab es in Ulm in diesem Jahr
vier Tabakmühlen, die jedoch nicht zwangsläufig auch dem jeweiligen
Tabakproduzenten gehören mussten. Teilweise hatte der Tabakindustrielle nur
eines von mehreren Wasserrädern vom Mühlenbesitzer in Pacht. Bereits für 1847
und 1849 lassen sich Dampfmaschinen zum Mahlen von Tabak in Ulm nachweisen. Die stärkste
hatte eine Leistung von 8 PS. Der einzige mechanisierte Arbeitsschritt im
gesamten Produktionsablauf der Tabakherstellung war also das Schneiden vom
Rauchtabak und das Mahlen von Schnupftabak, wobei nur bei letzterem der Einsatz
von Wasser- oder Dampfkraft nötig wurde.
Die erste Ulmer Tabakmanufaktur wurde 1768 vom
Kaufmann Johann Heinrich Seipel gegründet. Eine weitere Gründung fand 1770 mit
der Tabakmanufaktur von Georg Wechsler statt. 1797 gründete Christoph Erhard
Bürglen die dritte und Sebastian Seeger 1804 die vierte Tabakmanufaktur. Von
diesen Firmen blieben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur die von Wechsler
und Bürglen übrig, die beide rasch expandierten. Beide Firmen hatten ihre
Produktionsstätten in der Altstadt. Die Manufaktur von Wechsler befand sich
zunächst am östlichen Münsterplatz (Ecke Kramgasse/Paradiesgasse) und ab den 1850er Jahren in der östlichen
Altstadt im sog. „Manghof" (heute: Griesbadgasse 8). 1881 verkaufte Adolf Wechsler
(1829-1914) die Firma an die Gebrüder Bürglen, die die Produktionsstätten übernahmen.
Adolf Wechsler zog sich als Privatier in seine schlossähnliche Villa auf der
Wilhelmshöhe zurück und widmete sich fortan seinen eigentlichen Interessen, der
Schriftstellerei und der Dichtkunst. Aufsehen erregte 1908 seine Heirat mit der
24 Jahre alten Schauspielerin Emmy Gindorfer, die 1919 als eine der ersten
Frauen in den Ulmer Gemeinderat gewählt wurde.
Bürglen war seit 1837 in dem im Jahr 1551 gebauten
Patrizierhaus am Kornhaus (Kornhausgasse 1, „Roth'sche Haus") ansässig.
Die Produktionsstätte dort wurde sukzessive um den Häuserblock
Breitegasse/Kornhausgasse bis zur Rosengasse arrondiert und erweitert. Bürglen nutzte
außerdem zum Mahlen des Tabaks eine durch die Wasserkraft des nördlichen
Stadtgrabens angetriebene Mühle am Neutor (heute Bereich westliche Olgastraße).
Da die Wasserkraft nicht mehr ausreichte, setzte Bürglen dort ab 1866 eine
weitere Dampfmaschine zusätzlich zu der schon am Standort Kornhausgasse betriebenen
ein. Anfang der 1870er Jahre gab Bürglen die Tabakmühle am Neutor vollständig
auf und verlagerte ihren Betrieb in die Bürglensmühle (heute an der Blau
südlich des Deutschhaus-Parkhauses). Um die Wasserkraft besser ausnützen zu
können, ersetzte er die Wasserräder durch Turbinen und ließ die Mühle
grundlegend modernisieren
In der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg
geriet die Firma in ernste Schwierigkeiten. Rohtabak musste mit teuren Devisen
im Ausland eingekauft werden, das fertige Tabakprodukt konnte erst Monate
später gegen während der Verarbeitungszeit des Tabaks weiter entwertete Papiermark
verkauft werden. Dies und die zunehmende Konkurrenz durch ausländische
Tabakkonzerne zwangen die Firma, den Betrieb 1932 einzustellen. Um Schulden
ablösen zu können, musste Bürglen in der Folgezeit einen großen Teil seines
Immobilienbesitzes veräußern. Der Stammsitz an der Kornhausgasse 1
(Patrizierhaus) sowie die unmittelbar angrenzenden Fabrikgebäude an der Breiten
Gasse wurden 1942/43 an die Stadt verkauft.
Matthias Grotz (Stadtarchiv Ulm)