Sozialer Wandel und soziale Frage

© Stadtarchiv Ulm
Arbeiterwohnhäuser an der Unteren Bleiche um 1900
Im 19. Jahrhundert transformierte sich das
von den Zünften geprägte Wirtschaftsleben Ulms durch die Industrialisierung. Damit
einher ging eine weitreichende Änderung der Sozialstruktur. An Stelle des Patriziats
und der Kaufleute als städtischer Oberschicht der Reichsstadt trat eine neue Führungsschicht
aus Angehörigen von Handel, Gewerbe, Industrie und Bildungsbürgertum. Neben den
Taglöhnern und Handwerksgesellen, die bisher die soziale Gruppe der lohnabhängig
Beschäftigten der Reichsstadt gebildet hatten, entstand im Lauf des 19.
Jahrhunderts das Industrieproletariat. Die ersten, ab den 1830er Jahren vor
allem in Tabak- und Zunderfabriken beschäftigten Arbeiter stammten noch aus den
zünftigen Handwerken. Sie rutschten - sofern sie Meister gewesen waren - damit
aus der Selbständigkeit in die Lohnabhängigkeit ab. Zu Beginn der 1830er Jahre
mussten sich in Ulm 40 von 224 Schneider-und Schuhmachermeistern als
Fabrikarbeiter oder Taglöhner verdingen.
Die Gewerbeordnung von 1828 verlangte für die
Ausübung eines zünftigen Gewerbes im Gegensatz zu unzünftigen Gewerben den
Besitz des Bürger- oder Beisitzrechts (Beisitz = eingeschränktes Bürgerrecht) am
Ort der Gewerbeniederlassung. Der Artikel 24 des „Gesetzes über das
Gemeinde-Bürger- und Beisitzrecht" aus demselben Jahr schränkte nun die
Entscheidungshoheit der Städte ein: Das Bürger- oder Beisitzrecht durfte jetzt
nicht mehr mit der Begründung der Überbesetzung eines Handwerks abgelehnt
werden, wenn die übrigen Bestimmungen (u. a. Vermögen von 800 Gulden,
Entrichtung der Bürger- bzw. Beisitzaufnahmegebühr) erfüllt waren. Diese neue
Regelung förderte den Zuzug von Handwerksmeistern nach Ulm, verschärfte damit das
Problem der Überbesetzung einzelner Handwerkszweige und zwang viele Meister in
die Lohnabhängigkeit.
In der zweiten Hälfte der 1830er Jahre blieb die
Zuwanderung von Arbeitskräften nach Ulm - auch abzulesen an der niedrigen
Bevölkerungszunahme von nur 7 % - noch verhältnismäßig gering.
Erst der mit dem Bau der Bundesfestung verbundene konjunkturelle Aufschwung zu
Beginn der 1840er Jahre ließ die Nachfrage nach Arbeitskräften stärker steigen
und führte zu einer deutlichen Zuwanderung auswärtiger Lohnarbeiter.
Von 1840 bis 1846 stieg die Einwohnerzahl Ulms von 16.231 auf 20.048 Einwohner.
Da sich die neu zugezogenen Personen die Ulmer Bürger- oder
Beisitzer-Aufnahmegebühren oft nicht leisten konnten, behielt die Mehrheit ihr
Ortsbürgerrecht am Heimatort, so dass der Anteil der ortsfremden Bevölkerung von
15 % im Jahr 1840 auf 28,71 % im Jahr 1846 und 61 % im Jahr 1871 stieg. Die Ortsfremden besaßen kein Wahlrecht in Ulm und mussten fürchten, bei
Arbeitslosigkeit in ihre Heimatgemeinden abgeschoben zu werden, da die Pflicht
zur Armenunterstützung bei den Heimatgemeinden lag. Erst das 1873 in
Württemberg eingeführte Unterstützungswohnsitzgesetz änderte die Situation und
wälzte die Unterstützungspflicht auf die Gemeinde ab, in der ein Bedürftiger
zwei Jahre lang ohne Inanspruchnahme einer Unterstützung gewohnt hatte.
Eine eigene Gruppe innerhalb der Arbeiterschaft
bildeten die während der 1840er und 50er Jahre beim Bau der Bundesfestung Ulm
angestellten Tagelöhner, Erdarbeiter und Maurer, die nicht nur aus Württemberg,
sondern auch aus Bayern und Tirol stammten, und deren Anzahl sich je nach
Bauphase zwischen 3.500 und über 5.000 bewegte.
Die Gewerbeordnung des Königreichs Württemberg von
1862, die die Zünfte endgültig aufhob, grenzte Fabriken von Handwerksbetrieben
ab, indem sie Fabriken als Gewerbeunternehmen bezeichnete, „welche in
geschlossenen Etablissements unter Verwendung von mehr als 20 Arbeitern mit
Hilfe elementarer Betriebskräfte oder nach dem Prinzip der Arbeitsteilung
betrieben werden".
Sie schrieb den Fabriken auch verbindlich die Aufstellung von „Werkstätten-
oder Fabrikordnungen" vor, die z. B. Regelungen zur Arbeitszeit (meist
zwischen 60 und über 70 Stunden pro Woche), zur Entlassung (Kündigungsfristen
zwischen ein und zwei Wochen) und zu Disziplinarmaßnahmen enthielten. Entgegen
den Zunftvorschriften aus der Reichsstadtzeit, die vom Rat der Stadt entlassen
wurden und auf deren Durchführung der Rat über die Handwerksherren Einfluss hatte,
konnte der Fabrikbesitzer allein die Bestimmungen über sein Eigentum, die
Fabrik, erlassen. Die Löhne der Ulmer Fabrikarbeiter schwankten stark, lagen
aber insgesamt ungefähr auf gleicher Höhe wie die Handwerksgesellenlöhne. Ein
Fabrikarbeiter in der Wielandschen Messingfabrik verdiente 1847/48 je nach
Position zwischen 40 und 60 Kreuzern pro Tag, ein Metalldreher bei Schwenk 50
bis 60 Kreuzer. Niedriger lagen die Löhne in den Tabak- und Zunder- bzw.
Zündholzfabriken. Um 1848/49 lag der Verdienst eines Tabakarbeiters bei ca. 40
Kreuzern, der einer Zunderarbeiterin bei nur 24 Kreuzern.
Über die Hälfte eines Familieneinkommens mussten jedoch meist für
Nahrungsmittelausgaben verwendet werden, so dass viele Familien in Zeiten von
Missernten und in diesem Zusammenhang steigender Lebensmittelpreise
buchstäblich „am Hungertuch" nagten.
Die Industrialisierung veränderte neben der Sozialstruktur
auch die Arbeits- und Lebensbedingungen.
Neu war nicht nur die gemeinsame Arbeit in großen, geschlossenen
Fabrikgebäuden, sondern auch die Mechanisierung, die die Unfallgefahr erhöhte
und die Arbeiter oft gesundheitsschädlichen Substanzen aussetzte. Die arbeitsteilige
Produktion, bei der ein Arbeiter nur einen kleinen Produktionsschritt innerhalb
des gesamten Herstellungsprozess ausführte, forderte außerdem vom einzelnen absolute
Pünktlichkeit und Unterwerfung unter das Fabriksystem. Des Weiteren vollzog
sich eine Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz. Wohnten Handwerksgesellen früher
häufig noch unter dem Dach ihres Meisters, mussten sich die nach Ulm neu
hinzuziehenden Arbeiter selbst um Wohnraum kümmern, der ihre Ausgaben weiter erhöhte.
Durchschnittlich musste eine Fabrikarbeiterfamilie in Ulm in den 1870er Jahren
etwa ein Drittel ihres Einkommens für die Miete einer einfachen Ein- oder
Zweizimmerwohnung aufbringen.
Der Zuzug von Arbeitern ließ neue Wohnviertel entstehen, wie z. B. ab ca. 1860
die Neustadt (Gebiet zwischen Olga- und Karlstraße). Die Wohnverhältnisse waren
oft sehr beengt. Einer Person standen häufig nur vier bis acht qm Wohnfläche
zur Verfügung. Im Vergleich dazu beträgt die durchschnittliche Wohnfläche pro
Bewohner in Deutschland heute etwa 45 qm. Einige Arbeiterfamilien nahmen zur
Aufbesserung des Budgets sogenannte „Schlafgänger" auf, denen nur ein
Schlafplatz für einige Stunden in den Räumen der Familie vermietet wurde. Ab
den 1870er Jahren richteten Ulmer Unternehmer (z. B. Ziegelei Scheiffele) Arbeiterwohnungen
ein, die sie zu günstigen Mieten an ihre Arbeiter weitervermieteten.
Neben dem Wohnungsbau auf Arbeitgeberseite gab es auch kommunalen
Arbeiterwohnungsbau wie z.B die Siedlung "Untere Bleiche" in der
Oststadt, die in den Jahren 1894 bis 1914 entstand. Die Stadt erschloss die von
ihr erworbenen Grundstücke und errichtete darauf Doppelwohnhäuser mit Garten,
die sie nach Fertigstellung zu günstigen Bedingungen an Arbeiterfamilien
weiterveräußerte, um auf diese Weise auch breiteren Schichten den Erwerb von
Eigenheimen zu ermöglichen. Voraussetzung war, dass die Käufer dem "Stande der unteren Bediensteten, Arbeiter oder kleinen Gewerbetreibenden" angehörten, verheiratet oder mit Kindern verwitwet waren und das Haus selber bewohnten. Um Spekulationen zu vermeiden, sicherte sich die
Stadt ein Wiederkaufsrecht an den Häusern.
Im städtischen Gemeinwesen des Mittelalters und
der Neuzeit war die soziale Sicherung der Erwerbstätigen eine wesentliche
Aufgabe der Zünfte bzw. Gesellenbruderschaften. Während letztere zu Beginn des
19. Jahrhunderts ihre Bedeutung verloren hatten, blieben die Zünfte gerade im
Hinblick auf ihre soziale Funktion - auch für Gesellen - von Bedeutung. Gemäß
Art. 29 und 30 der Gewerbeordnung von 1828 bildeten sie den organisatorischen
Rahmen für Krankenfonds und Krankenkassen, die von Gesellenbeiträgen getragen,
jedoch von den Zunftmeistern verwaltet wurden. In Ulm lassen sich Unterstützungskassen
für einzelne Handwerke ab der zweiten Hälfte der 1820er Jahre nachweisen. Für
die beim Bau der Bundesfestung (1842-1859) und der Eisenbahnstrecken beschäftigten
Arbeiter wurden eigene Krankenkassen eingerichtet, die ebenfalls ärztliche
Behandlung im Spital beinhalteten. Im Jahre 1851 wurde eine Krankenkasse und
Krankenanstalt für Dienstboten eingerichtet, die die stationäre Versorgung von
Gehilfen „zünftiger und unzünftiger Gewerbsleute" und von männlichen und
weiblichen Dienstboten übernahm. Ausgenommen waren jedoch anfangs u. a. „Diener,
die in einem nach Tagen und Wochen wechselnden Dienstverhältnis" standen,
d. h. Tagelöhner konnten der Krankenkasse nicht beitreten. Der Beitragssatz
betrug jährlich 1 Gulden 44 Kreuzer und wurde vom Arbeitgeber erhoben, die ihn
dann ihrerseits - meist in Form des Lohnabzugs - vom Arbeitnehmer einzogen. 1873
wurden die Statuten revidiert und der Kreis der zur Teilnahme berechtigten oder
sogar verpflichteten Personen erweitert.
Die neue württembergische Gewerbeordnung von 1862 (Art.
45 und 49) ermächtigte die staatlichen Behörden, den Unternehmern die
Einrichtung von Betriebskrankenkassen für alle Arbeiter vorzuschreiben. In Ulm
bestanden Fabrikkrankenkassen u. a. bei der Tabakfabrik Gebrüder Bürglen, der
Pflugfabrik Eberhardt, C.D. Magirus, Zementfabrik Schwenk, Mayser und Wieland.
Durch Reichsgesetz vom 15. Juni 1883 wurde zur
sozialen Absicherung der Arbeiter im Krankheitsfall ein allgemeiner „Versicherungszwang"
für „Personen, welche gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt sind" eingeführt.
Das Gesetz begründete einen Rechtsanspruch des Versicherten auf Sachleistungen
wie ärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung, Arzneimittel sowie
Geldleistungen wie beispielsweise Krankengeld und Sterbegeld. Die Beiträge
wurden vom Arbeitgeber zu einem Drittel und vom Arbeitnehmer zu zwei Dritteln
getragen.
Matthias Grotz (Stadtarchiv Ulm)