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Das Ulmer Münster - Ein Generationenwerk, 1377 - 1890

Ansicht des Ulmer Münsters von Süden um 1675

© Stadtarchiv Ulm

Ansicht des Ulmer Münsters von Süden um 1675

Das Ulmer Münster, in reichsstädtischer Zeit die einzige Pfarrkirche in der Stadt, war zu allen Zeiten das unbestrittene städtische Wahrzeichen und zentrales Ziel jedes Reisenden. So schreibt 1731 der Münsterpfarrer Elias Frick: „Nicht leichtlich wird ein Reisender Ulm passiren, der nicht sollte das unvergleichliche Gebäude des Münsters mit Verwunderung ansehen und fragen: wer dasselbe angeleget“ (Frick, S. 1).
„Angeleget“ hatten es die Bürger der Stadt. 1377 hatten sie ihre alte, vor den Toren der Stadt liegende Pfarrkirche „ennet felds“, auf dem heutigen Alten Friedhof, abgebrochen und in der Mitte der Stadt einen Neubau erstellt. Ein Grund für die Verlegung war sicherlich die ungeschützte Lage vor den Mauern, vor allem in kriegerischen Zeiten. Nicht minder entscheidend war aber auch das wachsende Fernbleiben der Gläubigen, die ihre Gottesdienste in den innerstädtischen Klosterkirchen, besonders der Franziskaner und Dominikaner, feierten und dorthin natürlich auch reichlich spendeten. Ein Zustand, den der Pfarrklerus nicht mehr länger hinnehmen wollte. 1376 lag die Zustimmung der zuständigen kirchlichen Behörden zu Verlegung vor. Es waren der zuständige Diözesanbischof von Konstanz und der Abt des Klosters Reichenau, dem die Ulmer Pfarrkirche rechtlich eingegliedert war. Der Bau konnte beginnen. Am 30. Juni 1377 wurde in einem feierlichen Akt unter Teilnahme der Ulmer Bürgerschaft der Grundstein für die neue Kirche inmitten der Stadt gelegt.
Die Ulmer wollten eine Kirche, die dem Ansehen der politisch mächtigen und wirtschaftlich wohlhabenden Reichsstadt angemessen war. Dazu waren die Bürger bereit, großzügig sich finanziell zu beteiligen, zu spenden und zu stiften, seien es Geldzuwendungen, Einkünfte aus Liegenschaften, einen kostenbaren Pelz oder ein teueres Tuch. Wichtig war ihnen, die Kirche aus eigenen Mitteln, ohne die Unterstützung eines Bischofs oder Fürsten zu finanzieren. Eine Bürgerkirche sollte es werden.
Für ihren Kirchenbau gewannen die Ulmer die bedeutendsten Baumeister der Zeit – die Parler, die Ensinger, einen Kaspar Kuhn oder einen Matthäus Böblinger. Die Parler, die ersten Baumeister am Münster, planten von Anfang an einen gewaltigen Bau. Sie konzipierten eine Kirche, die in ihren Grundabmessungen weitgehend schon den heutigen entsprach (Länge rund 140 Meter, Breite rund 50 Meter). Auf das Fassungsvermögen umgerechnet, heißt das: Die Ulmer planten bei geschätzten 7.000 - 8.000 Einwohnern eine Kirche, die rund 20.000 Menschen Platz bietet.
Gedacht war zunächst an eine Hallenkirche (d.h. eine Kirche mit drei gleich hohen Schiffen, wie es auch im Grundsteinlegungsrelief im Münster dargestellt ist (Material 1). Anders als bisher angenommen, geht die jüngste Forschung allerdings davon aus, dass der Planwechsel von der Hallenkirche zur Basilika (erhöhtes Mittelschiff) bereits unter dem 1387 berufenen Heinrich III. Parler erfolgt sein musste und nicht – wie bis dato angenommen – erst unter seinem 1392 bestellten Nachfolger Ulrich von Ensingen. Beleg dafür ist für die Forscher ein heute dem Ulmer Westturm zugeschriebener Riss von Heinrich III. Parler mit einer vorgesehenen Turmhöhe von rund 176 Metern, damit rund 15 Meter höher als der heutige Hauptturm. „Spätestens“ – so die Forscher - „mit dem Beginn der Turmplanung [war] eine basikale Erhöhung des Langhauses mit niedrigeren Seitenschiffen geplant“ (Böker, S.12).
Der Bau der Kirche wurde 1377 von Heinrich II. Parler im Osten mit dem Chor und den Unterbauten zu den Osttürmen begonnen und ab 1383/84 von seinen beiden verwandten Nachfolgern Michael und Heinrich III. Parler mit dem Ausbau des Langhauses fortgesetzt. Gleichzeitig liefen die Abbrucharbeiten an der alten Pfarrkirche. Große Teile davon wurden in der neuen Kirche verbaut, darunter sind vor allem drei Portale: das sog. Brautportal (östliches Südportal), das sog. Kleine Marienportal (westliches Nordportal)und Teile des östlichen Nordportals, des sog.Passionsportals.
Mit Ulrich von Ensingen, der 1392 zum Münsterbaumeister berufen wurde, begann die Ära der Ensinger und Kuhn am Ulmer Münster. Bis 1471 hatte die Familie Ensinger mit den angeheirateten Kuhns die Leitung der Ulmer Bauhütte inne. Als Hauptwerk des 1419 in Straßburg verstorbenen Ulrich von Ensingen gilt der mächtige Westturm. Unterbau und Vorhalle entstanden unter seiner Leitung. 1405 wurde die neue Kirche geweiht. Hauptpatronin war Maria, die Mutter Jesu, daher auch der Kirchenname „ Pfarre zu unserer lieben Frau“. Damals schützte nur eine Notdecke den Kirchenraum. Noch fehlte jegliche Einwölbung. Insgesamt vergingen nochmals rund 70 Jahre, bis unter den Baumeistern Matthäus (1446-1463) und Moritz Ensinger (1463 -1477, Material 4) die Kirche völlig eingewölbt war: Chor (1449), Seitenschiffe (1452/1455) und Mittelschiff (1471). 1465 wurde die Kirche vermutlich erstmals als „Münster“ bezeichnet (Material 5).
Verstärkt wurde jetzt und in den nachfolgenden Jahrzehnten die Innenausstattung der Kirche fortgesetzt. Allen voran sei hier beispielhaft die prächtige, ganz im Geist des Frühhumanismus geschaffene Chorausstattung genannt - mit Dreisitz (1468), Chorgestühl (1469-1474) und Hochaltar, von dem heute nur noch der Planriss erhalten ist. Jörg Syrlin d. Ä. (1491 gestorben), Leiter des Gesamtprojektes, hatte zusammen mit anderen Künstlern, darunter Michel Erhart, das großartige Werk geschaffen. Insgesamt bot das Münster an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert eine eindrucksvolle Gesamtschau spätgotischer Frömmigkeit und Kunst. Allein ca. 50 Altäre, gestiftet von Ulmer Bürgern zu ihrem Seelenheil und aufgestellt an den Langhauspfeilen und Seitenschiffwänden, füllten den mächtigen Kirchenraum. Drei Patrizierfamilien - die Neidhardt, Besserer und Roth - hatten sich eigene Familienkapellen im Münster errichtet (Rothsche Kapelle 1817 abgebrochen).
Mit der fortschreitenden Ausstattung im Innern gingen gleichzeitig auch die Baumaßnahmen an der Kirche weiter. 1477 wurde Matthäus Böblinger zum Baumeister berufen. Er brachte einen neuen Turmplan mit und unter seiner Leitung wuchs der Westturm bis auf die Höhe der Vierecksplattform in rund 70 Metern, die im Juli 1492 König Maximilian I. bei seinem Besuch in der Stadt bestieg. Noch heute erinnert eine Tafel auf der Plattform an den königlichen Auftritt. Das Jahr 1492 brachte allerdings auch die Wende im Turmbau. 1492 – so berichtet der Chronist Sebastian Fischer - “hat sych das Münster anfahen sencken, das man gfircht hat es wird umfallen. ainmal an aim Suntag waren die leutt an der predig zu Mittag, da fielen zwen stain herab uß dem gwelb“ (Fischer, S. 226). Die Schäden am Turm, ausgelöst durch die mangelhafte Fundamendierung, führten schließlich zur Einstellung des Turmbaus. 1493 wurde ein Gutachtergremium von 28 Baumeistern zur Untersuchung des Schadens nach Ulm einberufen, unter ihnen auch Burkhard Engelberg aus Augsburg. Er wurde 1493 an die Stelle von Matthäus Böblinger zum neuen Baumeister bestellt und gilt mit seinen Sicherungsarbeiten am Westturm zu Recht als „des Pfarrturms zu Ulm großer Wiederbringer“. Und nicht nur das: Um das Auseinanderbrechen der Kirche durch den gewaltigen Druck der Gewölbe auf die Außenmauern zu verhindern, zog er in den beiden Seitenschiffen 1502 /1507 jeweils eine Säulenreihe ein, schuf damit kleinere Gewölbe und machte so aus der ursprünglich dreischiffigen Kirche einen fünfschiffigen, statisch stabilen Kirchenraum. Die Baubegeisterung der ersten Stunde war längst vorbei und 1543 wurde der Bau endgültig eingestellt. Aus Kostengründen, wie es im Rat hieß. 20 Jahre zuvor schon 1523 hatte der reformatorische Prediger Johann Eberlin von Günzburg (um 1470 – ca.1533) wortgewaltig in einem Sendschreiben an den Ulmer Rat den Münsterbau verurteilt. Gott habe kein Gefallen an dem Bau, schreibt er, „darauf unzählig Geld gegangen und geht“.
1530 entschieden sich die Ulmer in namentlicher Abstimmung mehrheitlich für die Reformation. Das Münster wurde eine evangelische Pfarrkirche, aus der 1531 die Bilder und die rund 50 Altäre entfernt wurden. Rund zwanzig Jahre zuvor soll Martin Luther auf seiner Romreise 1511/12 Ulm und auch das Münster besucht haben, das damals noch eine vollausgestattete katholische Kirche war. In jedem Fall urteilte er in einer Tischrede von 1538 über das Münster: „Sancti Peters münster zu Rom, Coloniae et Ulm templa sunt amplissima et inopportuna (Die Peterskirche in Rom, der Kölner Dom und das Ulmer Münster sind riesig und unpraktisch)“– unpraktisch wegen der schwierigen Akustik für den Predigtgottesdienst. [Schöllkopf, Zum Predigen ungeeignet,in: Südwest Presse 28.10.2010]
Abgesehen von notwendigen Sicherungsarbeiten stand der Bau am Münster für 300 Jahre still (Material 6). Übrigens - Ulm war da nicht allein. Auch in Köln etwa wurden die Bauarbeiten am Dom im 16. Jahrhundert eingestellt und erst im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen. In Ulm wurde 1844 nicht zuletzt auf energisches Betreiben des 1841 gegründeten Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben mit der Restaurierung und dem Ausbau des Münsters begonnen. Unter dem ersten Baumeister Ferdinand Thrän (1844 -1870), der 1844 mit zwei Steinmetzen die Bauhütte neu gründete, erfolgte u.a. der Einbau des Strebewerks, unter seinem Nachfolger Ludwig Scheu (1871-1880) der Ausbau der Osttürme und unter dem Münsterbaumeister August Beyer zwischen 1885 und 1890 die Vollendung des Hauptturms auf seine volle Höhe von 161,53 Metern (Material 8-10). Nach über 500 Jahren war damit 1890 der Bau der Bürgerkirche abgeschlossen, das Münster vollendet und ein Generationenwerk erfolgreich zu Ende gebracht.
 
Dr. Gebhard Weig (Stadtarchiv Ulm, i.R.)