Die „Schulzucht“
Im Ulmer Stadtarchiv sind aus der
Reichsstadtzeit zahlreiche teilweise sehr umfangreiche, handschriftliche und
gebundene „Schulordnungen“ für das Ulmer Gymnasium erhalten. Ihre Hauptaufgabe
war es, die Verteilung des Stoffes und die Aufteilung der Klassen festzulegen.
Am Schluss enthielten sie auch Bestimmungen zur Disziplin der Schüler und einen
Überblick über die möglichen Strafen. Im Jahre 1810 stellte Georg Friedrich
Daniel Goeß als „Rektor und erster Professor“ in einer gedruckt vorliegenden
Schrift dar, wie er sich nach dem Verlust der Reichsunmittelbarkeit die
„Organisation des Ulmischen Gymnasiums“ vorstellte. In der Einleitung
thematisiert er die beiden Extreme von zu großer Strenge und zu großer
Freizügigkeit in der Erziehung. Er will „offene, entschlossene, kräftige
Menschen“ bilden und fordert dafür das gute Beispiel von Eltern und Lehrern
ebenso wie eine „sittliche Ausbildung“ durch die Schule.
Die jeweiligen
Verhaltensvorschriften der Schulordnungen sind immer ein Indiz dafür, was
Anstoß erregte und deshalb einer Regelung bedurfte. Ständig wiederkehrende
Verordnungen zeigen dann, dass trotz allen Verboten der betreffende Missstand
nicht so einfach abzustellen war. Andererseits hat sich das, was uns heute als
selbstverständlich erscheint, häufig auch erst im Laufe der Zeit
herausgebildet. So fordert z. B. Goeß in seiner Schulordnung von 1810: „Als
Schüler muss der Neuaufgenommene sich in seiner Klasse jedesmal gewaschen, so
wie in Kleidern und Haaren reinlich gehalten zur bestimmten Stunde
einfinden..... da schmutzige und unreinliche Schüler nicht gedultet (!) werden
können.“ Und noch im Jahre 1909 heißt es in der Schulordnung der Ulmer
Handelsschule: „Die Schüler haben sich beim Unterricht in geordnetem Anzug
und in reinlichem Zustand einzufinden.“ In späteren Jahren fehlen diese
Bestimmungen, sei es, dass sie für überflüssig gehalten wurden, sei es, dass
man den Schülern und Schülerinnen größere Freiheiten bei der Wahl ihrer
Kleidung einräumen wollte. Dagegen war noch im 17. Jahrhundert für die
„Partemisten“ (Empfänger von „Benefizien“, d. h. materiellen Zuwendungen) das
Tragen eines schwarzen Mantels vorgeschrieben, damit die „Armut auch äußerlich
zutage trete“ (Greiner UO 20, S. 67), während die anderen Schüler des
Gymnasiums einen bunten Mantel und einen Degen tragen durften.
In früheren Zeiten war es
selbstverständlich, dass die Schulen auch über das Freizeitverhalten ihrer
Schüler wachten. Zur Reichsstadtzeit war der Gottesdienstbesuch der Schüler der
Lateinschule bzw. des Gymnasiums zwingend vorgeschrieben. Die Einhaltung dieses
Gebots stand an allererster Stelle der Verhaltensvorschriften. Wenn jemand
während des Gottesdienstes einschlief oder schwätzte oder sich mit anderen
Dingen beschäftigte, sollte er „von beiwesendem cantore notirt.... auch umb
sein verbrechen gestrafft werden“ (1613).
Ein besonderes Augenmerk der
Verhaltensvorschriften galt immer dem Gaststättenbesuch der Schüler. Im Jahre
1810 sieht Rektor Goeß es als die besondere Aufgabe des Rektors an, dafür „Sorge
zu tragen, daß dem Besuche der Gasthäuser, dem nächtlichen Herumlaufen und
Zechen gesteuert werde“ (§ 12). Und wenn in der Schulordnung der
Handelsschule aus dem Jahre 1909 verlangt wird, dass das „Verbot des
Wirtshausbesuches.....je am Anfang des Schuljahres in Erinnerung zu bringen“ sei,
so zeigt die turnusmäßige Wiederholung des Verbots, wie schwer diese Vorschrift
in der Praxis durchzusetzen war. Nur während Ulms bayerischer Zeit gab es hier
im Jahre 1807 eine gewisse Lockerung für Schüler, die „statt des Abendbrotes
ein Glas Bier trinken“ wollten.
Immerhin sollte in Goeß’
Schulordnung von 1810 den Schülern erlaubt sein, „zuweilen selbst
öffentliche Plätze in der Stadt zu besuchen“, aber nur den „Gymnasiasten
der oberen Klassen“ und auch nur solche Orte, „wo sich Personen von
Bildung und guten Sitten versammeln“ (§ 12). Offenbar machte das
„Herumlungern“ von Schülern keinen guten Eindruck in der Öffentlichkeit, und
der jeweilige Rektor fürchtete um den Ruf seiner Schule und ihrer
Erziehungsbemühungen. Vor allem von den Gymnasiasten wurde erwartet, dass sie
sich ihrer besonderen Stellung bewusst waren und sich zu jeder Zeit ihrer
Schule würdig erwiesen. In einem Fall aus dem Jahre 1869 wird sogar der Vater
eines Schülers, selber Lehrer an der Ulmer Realschule, darüber belehrt, es sei „bedenklich“,
sich mit seinem Sohn in einem Wirtshaus zu treffen, wenn dieser ein Gymnasiast
sei.
Um das Verhalten der Schüler zu
kontrollieren, waren neben den Lehrern besondere Personen, vorzugsweise der
„Pedell“ (Hausmeister), mit der Aufsicht beauftragt, oder es wurden die
Mitschüler direkt aufgefordert, ein Fehlverhalten der Schulleitung anzuzeigen.
Als im Jahre 1922 einige Schüler der 7. (heute: 11.) Klasse des Ulmer
Realgymnasiums in größerem Umfang Schulbänke zerstört hatten, wurde von der
Ministerialabteilung für die höheren
Schulen neben dem Klassenlehrer ausdrücklich auch der Hausmeister der Schule
dafür verantwortlich gemacht, da er es „nicht versteht, sich Achtung vor den
Schülern zu verschaffen und seine Weisungen diesen gegenüber durchzusetzen“.
Ein besonderes Kapitel der
Schulordnungen ist immer den Schulstrafen gewidmet. Damals wie heute wird dabei
auch geregelt, wer welche Strafen verhängen darf, streng nach dem Grundsatz: je
höher die Strafe, desto höher die Instanz, also vom betroffenen Lehrer bis zum
Rektor bzw. zum Lehrerkollegium. In der Reichsstadtzeit beginnt der
Strafenkatalog mit einer Kürzung der „Benefizii“. Auch die Prügelstrafe (1728: „mit
stecken und ruhten, jedoch auch geziemender moderation“) wird nicht
ausgeschlossen. Sie fehlt in dem Strafenkatalog der Handelsschule von 1909,
möglicherweise wegen des Alters der Schüler zwischen 14 und 18 Jahren. Dafür
wird hier der Arrest als Schulstrafe sehr genau geregelt – bis hin zu der
Bestimmung, dass ein Schüler, gegen den eine „Polizeistrafe“ verhängt
wurde, für diese Tat von der Schule nicht noch einmal bestraft werden darf. Im
Allgemeinen verfügten die Schulen über einen eigenen „Carcer“, in dem die
Schüler ihren Arrest absitzen mussten. Als schärfste Strafe gilt immer die
Androhung des Verweises, dann der vorübergehende und schließlich der endgültige
Verweis von der Schule.
In jüngerer Zeit wurden alle
diese Bestimmungen über das Verhalten der Schüler, die früher als
selbstverständlich hingenommen wurden, auf ihre Rechtmäßigkeit hin genau unter
die Lupe genommen. Die gesetzlichen Grundlagen sind daher 1983 im Schulgesetz
des Landes Baden-Württemberg verbindlich festgelegt worden. Innerhalb dieses
rechtlichen Rahmens können die Schulen eigene „Hausordnungen“ beschließen.
Teilweise wird sogar von einzelnen Klassen eine „Klassenordnung“ verabredet, in
der sich die Schüler gleichsam basisdemokratisch gegenseitig verpflichten, z. B. das
Klassenzimmer sauber zu halten, nicht dazwischenzureden, Konflikte friedlich zu
lösen und niemanden zu mobben.
Burckhard Pichon (Oberstudienrat i.R.)