Navigation und Service

Springe direkt zu:

Bürgerrechtsbestimmungen, neue Bevölkerungsschichten und Judenemanzipation

Auch das „Gesetz über das Gemeinde-Bürger- und Beisitzrecht“ von 1828/33 hob die althergebrachte Unterteilung der Bevölkerung in Bürger und Beisitzer mit minderen Rechten nicht auf. Jeder württembergische Staatsbürger musste jedoch zwingend das Bürger- oder Beisitzerrecht in irgendeiner Gemeinde des Landes - meist in seinem Geburtsort - besitzen. Das Bürger- oder Beisitzerrecht wurde durch Geburt erworben - wenn der Vater Bürger oder Beisitzer war - oder durch gebührenpflichtige Aufnahme. Mit dem Bürger- oder Beisitzerrecht war der Anspruch auf öffentliche Unterstützung aus der gemeindlichen Armenkasse verbunden. Da während der Industrialisierung viele Arbeiter aus dem Umland nach Ulm strömten, die zwar in Ulm wohnten, das Bürgerrecht aber in ihrem Geburtsort besaßen, führte diese Regelung dazu, dass ein immer größer werdender Anteil der Einwohner kein Anrecht auf Armenunterstützung in Ulm hatte. Der Anteil dieser als „Ortsfremde“ bezeichneten Personen betrug 1871 61 Prozent, 1905 64,2 Prozent. Dieser Missstand wurde durch das 1873 in Württemberg eingeführte Unterstützungswohnsitzgesetz beseitigt, das die Unterstützungspflicht auf die Gemeinde abwälzte, in der ein Bedürftiger zwei Jahre lang ohne Inanspruchnahme einer Unterstützung gewohnt hatte.
Bedingt durch die Zuwanderung aus dem katholisch geprägten Umland von Ulm wuchs der Anteil der Katholiken in der ursprünglich rein evangelischen Stadt von zwei Prozent im Jahr 1812 auf 20 Prozent 1861 und 29 Prozent 1895.
Im Mai 1828 trat das „Gesetz in Betreff der öffentlichen Verhältnisse der israelitischen Glaubensgenossen“ in Kraft, das die rechtlichen und kirchlichen Belange der württembergischen Juden regelte und u.a. die Annahme von Familiennamen sowie den Gebrauch der deutschen Sprache und Schrift bei Rechtsgeschäften verlangte. Es ermöglichte den Juden - mit gewissen Einschränkungen - die freie Berufswahl. Jeder Jude bekam das Recht auf freie Niederlassung im Königreich Württemberg und war auf sein Ansuchen als Mitglied einer Zunft oder Innung aufzunehmen. Außerdem konnten Juden das örtliche Bürger- oder Beisitzrecht in einer Gemeinde erwerben. Am 16. Dezember 1835 wurde ihnen das passive und aktive Wahlrecht für die Wahlen zu Bürgerausschuss und Gemeinderat gewährt. Mit einer Eingabe protestierte der Handel- und Gewerbestand in Ulm gegen das Emanzipationsgesetz. Die volle bürgerliche Gleichstellung der Juden wurde in Württemberg 1864 gesetzlich verankert. Die Reichsverfassung von 1871 machte alle deutschen Juden zu gleichberechtigten Staatsbürgern.

Matthias Grotz (Stadtarchiv Ulm)